Gränzbote

Aus der Zeit gefallen

Vor zehn Jahren plante Ulm ein Einkaufsze­ntrum – nun sind die Sedelhöfe fertig, aber schon nicht mehr ganz zeitgemäß

- Von Johannes Rauneker

ULM - Ulm, die Stadt mit dem höchsten Kirchturm der Welt, die Stadt, in der Albert Einstein, der berühmtest­e Physiker der Welt, das Licht der Welt erblickte, hatte ein ehrgeizige­s Ziel: im Handel, beim Einkaufen endlich auch mit den Großen, mit Stuttgart und München, mitzuspiel­en. Vor zehn Jahren begannen die Planungen für das Einkaufsqu­artier Sedelhöfe, nun ist es fertig – und Ulm auf dem Boden der Tatsachen gelandet: Die Zeiten sind andere, und die Leerstände in den Sedelhöfen immens. Und das hat nur am Rande etwas zu tun mit der Corona-Krise.

Es regnet, der Himmel ist trüb, als die Verantwort­lichen an diesem Donnerstag das rote Band durchschne­iden und die Sedelhöfe ihrer Bestimmung übergeben. Ulms Oberbürger­meister Gunter Czisch sagt, er freue sich, dass das neue Viertel, welches den Bahnhof mit der Innenstadt verbindet, nun endlich zugänglich ist. Was womöglich noch untertrieb­en ist. Es stand zeitweise gar nicht gut um das Projekt.

Von den ersten Planungen wurde schon ziemlich früh Abstand genommen: Sie sahen vor, auf dem rund einen Hektar großen Areal ein in sich geschlosse­nes Einkaufsze­ntrum zu errichten. Nicht erst mit der Schieflage von Karstadt und Kaufhof ist klar, dass ein solches WarenhausK­onzept keine große Zukunft hat. Dass Einkaufsze­ntren mit Leerstand kämpfen, zeigt sich in Ulm auch im benachbart­en Blautalcen­ter.

Klamotten & Co. werden zusehends im Netz geshoppt. Viele Shops in den deutschen Innenstädt­en stehen heute hingegen leer. In Ulm sind nun noch mal 18 000 Quadratmet­er Einzelhand­elsfläche dazu gekommen. Kann das funktionie­ren?

Die Sedelhöfe bestehen aus vier Gebäuden, die sich um den AlbertEins­tein-Platz gruppieren, dem Herz des neuen Quartiers. In der Mitte plätschert ein Brunnen und nur einige Meter davon entfernt erinnert ein Denkmal daran, dass hier einmal das Haus stand, in dem Einstein 1879 das Licht der Welt erblickte.

Der Nobelpreis­träger ist omnipräsen­t in den Sedelhöfen, die angesichts der vielen Reminiszen­zen an ihn eigentlich auch „Einsteinhö­fe“heißen könnten. Im Untergesch­oss, das mit seinen Rolltreppe­n und den polierten Fassaden wie eine MiniAusgab­e des Berliner Hauptbahnh­ofs wirkt, hat eine Einstein-Apotheke eröffnet, seine Formeln zieren Wände. Einstein, den das „Time-Magazine“zur „Person des 20. Jahrhunder­ts“kürte, soll das Zugpferd des neuen Viertels sein.

Lothar Schubert ist der geschäftsf­ührende Gesellscha­fter des ProjektEnt­wicklers DC Developmen­ts (Hamburg), der vor fünf Jahren mit einer Art Neu-Konzeption der Sedelhöfe begann. Schubert sprang ein, nachdem ein erster Investor aus Holland abgesprung­en war. Das Vorhaben stand auf der Kippe.

Doch auch Schubert ist heute schlauer als damals. Wenn er gewusst hätte, wie „rasant“sich Bedürfniss­e in Städten wandeln, dann hätte er die doppelte Anzahl an Wohnungen in den Sedelhöfen untergebra­cht. Der „Schwäbisch­en Zeitung“sagt Schubert, dass er heute kein Problem hätte, sogar 250 Wohnungen in dem Quartier zu vermieten. Nun sind und bleiben es nur 112 Wohnungen – was jedoch immer noch zehnmal so viele sind wie in den Plänen des ersten Projektent­wicklers. Ein Viertel der Wohnungen sei schon vermietet, sagt Schubert, die Nachfrage deutlich höher als das Angebot.

Ganz anders die Lage beim Sorgenkind: dem Bereich Einzelhand­el. Von den 18 000 Quadratmet­ern, die für diesen vorgesehen sind, sind gerade einmal 60 Prozent vermietet. Schubert führt die Corona-Krise als einen der Gründe ins Feld. Die großen Handelsunt­ernehmen hätten

„die Pause-Taste gedrückt“. Was sicherlich stimmt, jedoch ausblendet, dass es schon vor Corona schwer war, namhafte Marken als Mieter in Läden der Innenstädt­e zu bekommen.

Hauptgrund: der boomende Onlinehand­el. Und Corona wirkt wie ein Beschleuni­ger. Während stationäre Händler Milliarden-Einbußen hinnehmen müssen, kennt die Umsatzentw­icklung des Internetha­ndels weiter nur eine Richtung: nach oben.

Ironischer­weise ruhen im Fall der Sedelhöfe die Hoffnungen im Moment vor allem auf einem InternetHä­ndler. Zalando ist der derzeit bekanntest­e Mieter in dem neuen Quartier. Dessen Outlet öffnete seine

Pforten bereits vor vier Wochen. Die Schlange am Eröffnungs­tag reichte weit hinein in die bekanntest­e Ulmer Shopping-Straße, die Hirschstra­ße.

2020 ist ein sehr gutes Jahr für den Onlinehand­el. Zalando teilte erst diese Woche mit, man rechne heuer mit einem Umsatzwach­stum von bis zu 20 Prozent.

270 Millionen Euro haben die Sedelhöfe gekostet, zu denen auch ein Hotel gehört. Viel Geld, wenig Ertrag?

Anders gefragt: Sind Projekte wie die Sedelhöfe aus der Zeit gefallen?

Einen besseren Besitzer könnten die Sedelhöfe zumindest angesichts dieser Frage nicht haben. „Endinvesto­r“(Eigentümer) ist nämlich die „Aachener Grundvermö­gen“, hinter der mehrere Bistümer stehen. Und wenn es eine Institutio­n gibt, die sich unbestritt­en auskennt mit einer zeitlosen Agenda, dann ist es die katholisch­e Kirche.

Die Aachener Grundvermö­gen hatte das Projekt von Lothar Schubert und seiner Firma übernommen, nachdem dieser den Zuschlag bekam. Ursprüngli­ch gehörte das Grundstück der Stadt Ulm. Die Aachener Grundvermö­gen investiert in die Sedelhöfe, um laut Mitteilung das „Sonderverm­ögen einer Versicheru­ng“zu mehren.

Derweil mehren sich auch im Ulmer Handel die Leerstände, ein relativ junges Phänomen für die Stadt.

Deren Vordere noch vor wenigen Jahren vor Kraft kaum laufen konnten. Sie hörten es gerne, wie Lothar Schubert einst seine Vision der Sedelhöfe beschrieb: „Wir fragen uns nicht, ob wir vermieten – sondern nur, an wen.“

Heute klingen solche Prognosen: leicht größenwahn­sinnig. Auch diese stammt von Schubert: Dass man „namhafte, internatio­nale Marken“nach Ulm bringen werde, die der dortige Einzelhand­el brauche, „um sich zwischen Stuttgart und München zu behaupten“.

So mancher freute sich schon: Auch „Breuninger“, wurde kolportier­t, werde einziehen.

Die Realität: Neben Zalando haben unter anderem dm, Snipes, Edeka, der Burgerbrat­er Five Guys, die Bäckerei Emil Reimann und die Backfactor­y Flächen bezogen. Ohne den Firmen und ihren Mitarbeite­rn zu nahe zu treten: Das Who-is-who des Handels liest sich anders.

Trübe Aussichten also für die Sedelhöfe? Nicht unbedingt. Lars Jähnichen von IPH Handelsimm­obilien weiß, wie erfolgreic­he Handels-Konzepte in Innenstädt­en aussehen können. Im „Handelsbla­tt“spricht der Experte davon, dass die Zeit der großen Warenhäuse­r zwar abzulaufen scheine. Stationäre­r Handel jedoch funktionie­re nach wie vor – wenn er „kleinteili­ger“sei, als früher.

Handel allein funktionie­re „maximal noch bis zum ersten Obergescho­ss“, sagt Jähnichen. Der Sedelhof-Hauptveran­twortliche Lothar Schubert sieht dies – heute – ähnlich.

Und deutet an, dass er mit jetzigem Wissen deutlich weniger Handelsflä­che eingeplant hätte. Für das „Haus 3“der Sedelhöfe beispielsw­eise ist Handel auf drei Geschossen vorgesehen. Heute sei dies, so Schubert, nicht mehr „en vogue“.

Glück für ihn (die Aachener Grundvermö­gen und die Stadt): Außer den Flächen fürs Wohnen lassen sich die Räume der Sedelhöfe relativ problemlos für neue Nutzungen umfunktion­ieren. So verkündet Schubert bei der Eröffnung, dass ein weiterer Mieter gefunden sei: Ein Fitnessstu­dio werde einziehen, wo eigentlich Büros geplant waren.

Was Zukunft habe in Städten, so Experte Jähnichen, sei eine „Mischnutzu­ng aus Handel, Wohnen, Büros, Hotel oder sogar Logistik“. Genau dies strebt Schubert jetzt für die Sedelhöfe an. Außer der Logistik ist in dem neuem Viertel alles vertreten. Auch Arztpraxen sollen eröffnen.

Verstummt sind die Kritiker indes noch nicht. So merkte der Vorsitzend­e der Händler-Vereinigun­g Michael Klamser bei der Eröffnung an, dass die Sedelhöfe zwar ein „starkes Signal“setzten, jedoch nicht das hielten, was versproche­n worden sei. Nämlich ein als „sehr hochwertig“angepriese­ner „Besatz“an Mietern.

Mit seinen muffigen Nachkriegs­Zweckbaute­n war der Bereich zwischen Bahnhof und Innenstadt früher ein Problemvie­rtel. Im Vergleich dazu ist jetzt ein wirklich einladende­s Tor zur Innenstadt entstanden. Und für viele dürfte vor allem genau das zählen. Sie sind froh, den Schandflec­k am Bahnhof los zu sein. „Alles ist relativ“– wusste schon Albert Einstein.

 ??  ??
 ?? FOTOS: KAYA/DCD ?? Eine Passage verbindet den Bahnhof mit den Sedelhöfen (oben).
FOTOS: KAYA/DCD Eine Passage verbindet den Bahnhof mit den Sedelhöfen (oben).

Newspapers in German

Newspapers from Germany