Aus der Zeit gefallen
Vor zehn Jahren plante Ulm ein Einkaufszentrum – nun sind die Sedelhöfe fertig, aber schon nicht mehr ganz zeitgemäß
ULM - Ulm, die Stadt mit dem höchsten Kirchturm der Welt, die Stadt, in der Albert Einstein, der berühmteste Physiker der Welt, das Licht der Welt erblickte, hatte ein ehrgeiziges Ziel: im Handel, beim Einkaufen endlich auch mit den Großen, mit Stuttgart und München, mitzuspielen. Vor zehn Jahren begannen die Planungen für das Einkaufsquartier Sedelhöfe, nun ist es fertig – und Ulm auf dem Boden der Tatsachen gelandet: Die Zeiten sind andere, und die Leerstände in den Sedelhöfen immens. Und das hat nur am Rande etwas zu tun mit der Corona-Krise.
Es regnet, der Himmel ist trüb, als die Verantwortlichen an diesem Donnerstag das rote Band durchschneiden und die Sedelhöfe ihrer Bestimmung übergeben. Ulms Oberbürgermeister Gunter Czisch sagt, er freue sich, dass das neue Viertel, welches den Bahnhof mit der Innenstadt verbindet, nun endlich zugänglich ist. Was womöglich noch untertrieben ist. Es stand zeitweise gar nicht gut um das Projekt.
Von den ersten Planungen wurde schon ziemlich früh Abstand genommen: Sie sahen vor, auf dem rund einen Hektar großen Areal ein in sich geschlossenes Einkaufszentrum zu errichten. Nicht erst mit der Schieflage von Karstadt und Kaufhof ist klar, dass ein solches WarenhausKonzept keine große Zukunft hat. Dass Einkaufszentren mit Leerstand kämpfen, zeigt sich in Ulm auch im benachbarten Blautalcenter.
Klamotten & Co. werden zusehends im Netz geshoppt. Viele Shops in den deutschen Innenstädten stehen heute hingegen leer. In Ulm sind nun noch mal 18 000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche dazu gekommen. Kann das funktionieren?
Die Sedelhöfe bestehen aus vier Gebäuden, die sich um den AlbertEinstein-Platz gruppieren, dem Herz des neuen Quartiers. In der Mitte plätschert ein Brunnen und nur einige Meter davon entfernt erinnert ein Denkmal daran, dass hier einmal das Haus stand, in dem Einstein 1879 das Licht der Welt erblickte.
Der Nobelpreisträger ist omnipräsent in den Sedelhöfen, die angesichts der vielen Reminiszenzen an ihn eigentlich auch „Einsteinhöfe“heißen könnten. Im Untergeschoss, das mit seinen Rolltreppen und den polierten Fassaden wie eine MiniAusgabe des Berliner Hauptbahnhofs wirkt, hat eine Einstein-Apotheke eröffnet, seine Formeln zieren Wände. Einstein, den das „Time-Magazine“zur „Person des 20. Jahrhunderts“kürte, soll das Zugpferd des neuen Viertels sein.
Lothar Schubert ist der geschäftsführende Gesellschafter des ProjektEntwicklers DC Developments (Hamburg), der vor fünf Jahren mit einer Art Neu-Konzeption der Sedelhöfe begann. Schubert sprang ein, nachdem ein erster Investor aus Holland abgesprungen war. Das Vorhaben stand auf der Kippe.
Doch auch Schubert ist heute schlauer als damals. Wenn er gewusst hätte, wie „rasant“sich Bedürfnisse in Städten wandeln, dann hätte er die doppelte Anzahl an Wohnungen in den Sedelhöfen untergebracht. Der „Schwäbischen Zeitung“sagt Schubert, dass er heute kein Problem hätte, sogar 250 Wohnungen in dem Quartier zu vermieten. Nun sind und bleiben es nur 112 Wohnungen – was jedoch immer noch zehnmal so viele sind wie in den Plänen des ersten Projektentwicklers. Ein Viertel der Wohnungen sei schon vermietet, sagt Schubert, die Nachfrage deutlich höher als das Angebot.
Ganz anders die Lage beim Sorgenkind: dem Bereich Einzelhandel. Von den 18 000 Quadratmetern, die für diesen vorgesehen sind, sind gerade einmal 60 Prozent vermietet. Schubert führt die Corona-Krise als einen der Gründe ins Feld. Die großen Handelsunternehmen hätten
„die Pause-Taste gedrückt“. Was sicherlich stimmt, jedoch ausblendet, dass es schon vor Corona schwer war, namhafte Marken als Mieter in Läden der Innenstädte zu bekommen.
Hauptgrund: der boomende Onlinehandel. Und Corona wirkt wie ein Beschleuniger. Während stationäre Händler Milliarden-Einbußen hinnehmen müssen, kennt die Umsatzentwicklung des Internethandels weiter nur eine Richtung: nach oben.
Ironischerweise ruhen im Fall der Sedelhöfe die Hoffnungen im Moment vor allem auf einem InternetHändler. Zalando ist der derzeit bekannteste Mieter in dem neuen Quartier. Dessen Outlet öffnete seine
Pforten bereits vor vier Wochen. Die Schlange am Eröffnungstag reichte weit hinein in die bekannteste Ulmer Shopping-Straße, die Hirschstraße.
2020 ist ein sehr gutes Jahr für den Onlinehandel. Zalando teilte erst diese Woche mit, man rechne heuer mit einem Umsatzwachstum von bis zu 20 Prozent.
270 Millionen Euro haben die Sedelhöfe gekostet, zu denen auch ein Hotel gehört. Viel Geld, wenig Ertrag?
Anders gefragt: Sind Projekte wie die Sedelhöfe aus der Zeit gefallen?
Einen besseren Besitzer könnten die Sedelhöfe zumindest angesichts dieser Frage nicht haben. „Endinvestor“(Eigentümer) ist nämlich die „Aachener Grundvermögen“, hinter der mehrere Bistümer stehen. Und wenn es eine Institution gibt, die sich unbestritten auskennt mit einer zeitlosen Agenda, dann ist es die katholische Kirche.
Die Aachener Grundvermögen hatte das Projekt von Lothar Schubert und seiner Firma übernommen, nachdem dieser den Zuschlag bekam. Ursprünglich gehörte das Grundstück der Stadt Ulm. Die Aachener Grundvermögen investiert in die Sedelhöfe, um laut Mitteilung das „Sondervermögen einer Versicherung“zu mehren.
Derweil mehren sich auch im Ulmer Handel die Leerstände, ein relativ junges Phänomen für die Stadt.
Deren Vordere noch vor wenigen Jahren vor Kraft kaum laufen konnten. Sie hörten es gerne, wie Lothar Schubert einst seine Vision der Sedelhöfe beschrieb: „Wir fragen uns nicht, ob wir vermieten – sondern nur, an wen.“
Heute klingen solche Prognosen: leicht größenwahnsinnig. Auch diese stammt von Schubert: Dass man „namhafte, internationale Marken“nach Ulm bringen werde, die der dortige Einzelhandel brauche, „um sich zwischen Stuttgart und München zu behaupten“.
So mancher freute sich schon: Auch „Breuninger“, wurde kolportiert, werde einziehen.
Die Realität: Neben Zalando haben unter anderem dm, Snipes, Edeka, der Burgerbrater Five Guys, die Bäckerei Emil Reimann und die Backfactory Flächen bezogen. Ohne den Firmen und ihren Mitarbeitern zu nahe zu treten: Das Who-is-who des Handels liest sich anders.
Trübe Aussichten also für die Sedelhöfe? Nicht unbedingt. Lars Jähnichen von IPH Handelsimmobilien weiß, wie erfolgreiche Handels-Konzepte in Innenstädten aussehen können. Im „Handelsblatt“spricht der Experte davon, dass die Zeit der großen Warenhäuser zwar abzulaufen scheine. Stationärer Handel jedoch funktioniere nach wie vor – wenn er „kleinteiliger“sei, als früher.
Handel allein funktioniere „maximal noch bis zum ersten Obergeschoss“, sagt Jähnichen. Der Sedelhof-Hauptverantwortliche Lothar Schubert sieht dies – heute – ähnlich.
Und deutet an, dass er mit jetzigem Wissen deutlich weniger Handelsfläche eingeplant hätte. Für das „Haus 3“der Sedelhöfe beispielsweise ist Handel auf drei Geschossen vorgesehen. Heute sei dies, so Schubert, nicht mehr „en vogue“.
Glück für ihn (die Aachener Grundvermögen und die Stadt): Außer den Flächen fürs Wohnen lassen sich die Räume der Sedelhöfe relativ problemlos für neue Nutzungen umfunktionieren. So verkündet Schubert bei der Eröffnung, dass ein weiterer Mieter gefunden sei: Ein Fitnessstudio werde einziehen, wo eigentlich Büros geplant waren.
Was Zukunft habe in Städten, so Experte Jähnichen, sei eine „Mischnutzung aus Handel, Wohnen, Büros, Hotel oder sogar Logistik“. Genau dies strebt Schubert jetzt für die Sedelhöfe an. Außer der Logistik ist in dem neuem Viertel alles vertreten. Auch Arztpraxen sollen eröffnen.
Verstummt sind die Kritiker indes noch nicht. So merkte der Vorsitzende der Händler-Vereinigung Michael Klamser bei der Eröffnung an, dass die Sedelhöfe zwar ein „starkes Signal“setzten, jedoch nicht das hielten, was versprochen worden sei. Nämlich ein als „sehr hochwertig“angepriesener „Besatz“an Mietern.
Mit seinen muffigen NachkriegsZweckbauten war der Bereich zwischen Bahnhof und Innenstadt früher ein Problemviertel. Im Vergleich dazu ist jetzt ein wirklich einladendes Tor zur Innenstadt entstanden. Und für viele dürfte vor allem genau das zählen. Sie sind froh, den Schandfleck am Bahnhof los zu sein. „Alles ist relativ“– wusste schon Albert Einstein.