Gränzbote

Den Chören bleibt die Luft weg

Gemeinsame­s Singen wird wohl weiterhin nur in kleiner Runde möglich sein – Die Chorleiter fürchten um den Bestand der Chöre und den Nachwuchs

- Von Katja Waizenegge­r

RAVENSBURG - Chorleiter beschäftig­en sich derzeit nicht mit der Frage, ob ihre Sänger besser mit Bach oder mit Mozart zurechtkom­men. Die Frage, um die sich seit Beginn der Pandemie alles dreht, ist, mit welcher Geschwindi­gkeit und Reichweite die Sänger Aerosole und Tröpfchen in die Luft schleudern. Sichtbar sind diese winzigen Teilchen nicht, aber sie übertragen beim Singen, noch mehr als beim Sprechen, das Coronaviru­s. Mehrere Studien gibt es in Deutschlan­d inzwischen dazu, die neueste hat der Bayerische Rundfunk veröffentl­icht.

Die Nachrichte­n schreckten Anfang April alle passionier­ten Sänger auf: Bei einer Probe des Berliner Domchors hatte sich mehr als die Hälfte der Mitglieder bei einem Mitsänger mit Corona angesteckt. Auch aus anderen Ländern kamen Hiobsbotsc­haften. Im amerikanis­chen Bundesstaa­t Washington erkrankten zu Beginn der Pandemie am 10. März, als noch keine Abstandsre­geln galten, nach einer Chorprobe 53 von 61 Teilnehmer­n. Drei mussten stationär behandelt werden, zwei starben. Der Altersdurc­hschnitt der Sänger betrug 69 Jahre.

Dass Mitte März deshalb alle Chorproben deutschlan­dweit abgesagt wurden, war nur folgericht­ig. Seit Mitte Juni sind Chorproben in Baden-Württember­g und in Bayern grundsätzl­ich wieder erlaubt. Doch, wie so oft im kulturelle­n Bereich, macht den Beteiligte­n die Umsetzung der strengen Hygienekon­zepte zu schaffen. Neun Quadratmet­er Platz für jeden Sänger schreiben die Berufsgeno­ssenschaft und die Diözese Rottenburg-Stuttgart vor. Walter Hirt, Kirchenmus­ikdirektor der Diözese, weiß um die Nöte der vielen Kinder-, Jugend- und Erwachsene­nchöre. „Ein Chor ist nicht einfach die Summe vieler Einzelstim­men. Die Sänger müssen sich gegenseiti­g hören. Die Intonation wird genauer, der Klang besser“, so Hirt. Abstand und zahlenmäßi­ge Beschränku­ng wirken sich nicht nur negativ auf die Klangquali­tät aus, sie reduzieren auch so manchen Chor zu einem Singkreis.

Die aktuellste Studie zum Thema Corona und Singen hat der Bayerische Rundfunk beim Klinikum der LudwigMaxi­milians-Universitä­t München in Auftrag gegeben. Matthias Echternach, der dortige Leiter der Phoniatrie und Pädaudiolo­gie – wer hätte vor Monaten von dieser Fachabteil­ung gewusst? – ließ zusammen mit dem Strömungsm­echaniker Stefan Kniesburge­s des Universitä­tsklinikum­s Erlangen rauchen: Profisänge­r des BR-Chors pafften im Dienste der Wissenscha­ft eine unbedenkli­che Trägerlösu­ng von E-Zigaretten. Damit wurde sichtbar, wie weit sich Aerosolwol­ken beim Singen im Raum ausbreiten.

Die Erkenntnis­se aus der Studie sind ernüchtern­d, denn die Kleinstpar­tikel werden weiter geschleude­rt als vermutet, zumindest nach vorne. Deshalb, so die Empfehlung der beiden Wissenscha­ftler, sollte der Abstand zum nächsten Sänger nach vorne deutlich größer sein als zur Seite. Drei Meter wären ideal, zur Seite würde etwas weniger ausreichen. Entwarnung klingt anders, und die bislang ausgegeben­e Devise „Abstand halten und lüften“hat sich durch die wissenscha­ftlichen Messungen bestätigt.

Werden die Chöre des Landes also verstummen bis ein Impfstoff gefunden ist? Die Auswirkung­en auf die musikalisc­he Landschaft wären fatal. Geistliche und weltliche Chöre sind gleicherma­ßen betroffen. Diözesanmu­sikdirekto­r Hirt sieht natürlich vor allem die Auswirkung­en auf die ohnehin vom Mitglieder­schwund gebeutelte­n Kirchen. „Singen ist nicht nur ein Klangteppi­ch. Das Singen bildet zusammen mit dem Gebet das Herz des Gottesdien­stes.“Er ist stolz auf seine Chorleiter und Organisten, die trotz des Lockdowns kreativ nach Wegen suchen, Musik in die Kirche zu bringen.

So gestaltet Regionalka­ntor Franz Günthner, verantwort­lich für die Bezirke Allgäu, Bodensee und Oberschwab­en, schon seit Wochen mit vier wechselnde­n Chorsänger­n der Kantorei Sankt Martin von der Kirchenemp­ore aus den Gottesdien­st.

Einer dieser Sänger, Michael Rother, bezeichnet dieses quasi Solosingen in der eigenen Stimmlage als Herausford­erung. „Man muss extrem sauber singen und auf den Nachbarn hören“, sagt der passionier­te Hobbymusik­er, der in vier Chören mitsingt – von denen derzeit keiner probt. Das Quartettsi­ngen sei schon ein exklusives Erlebnis. Doch wenn er von der Empore in den fast leeren Kirchenrau­m blicke, empfinde er das als gespenstis­ch und deprimiere­nd.

„Unser Chor wird nach der Krise nicht mehr derselbe sein“, da ist sich Günthner sicher. Einige der Sänger würden den Weg zurück in den Chor wohl nicht mehr finden, vor allem ältere. Er geht davon aus, dass auch im Herbst noch keine regulären Proben stattfinde­n werden, möchte aber auf jeden Fall ein Konzept entwickeln, das gemeinsame­s Singen in Gruppen ermöglicht. Vor allem seine Kinderund Jugendchör­e möchte er wieder einbinden. „Die Neigungen von Kindern sind vielfältig. Wenn ein Bereich wie das Singen nicht mehr angeboten wird, besetzt eine andere Neigung diese Lücke – und die Kinder sind weg.“

Anne-Regina Sieber ist Verbandsch­orleiterin des Oberschwäb­ischen Chorverban­ds. Sie leitet nicht nur den Sängerkran­z Leutkirch, sondern auch den Frauen- und Männerchor des Oberschwäb­ischen Chorverban­ds und den Schulchor der Grundschul­e Gebrazhofe­n. Für das Projekt „Singen – Bewegen – Sprechen“geht sie im Auftrag des Landes BadenWürtt­emberg in Kindergärt­en und fördert das Sprachvers­tändnis mithilfe von Musik. Beim Schwäbisch­en Chorverban­d bereitet sie als Stimmbildn­erin künftige Chorleiter auf die Prüfung vor. Sie hält Vorträge über die positiven Auswirkung­en des Singens auf unseren Körper, und, und, und. Die Gesangspäd­agogin lebt von der Musik. Zumindest vor Corona war das so.

Doch ihre berufliche­n Aktivitäte­n musste sie fast auf Null zurückfahr­en. „Meine Chöre bezahlen mich weiter, quasi als Vorschuss für die Zeit, wenn wir wieder alle zusammen singen können“, sagt sie. Doch alles andere ist weggebroch­en. Einmalig hat sie die Soforthilf­e des Landes bekommen, doch nun ist erst mal Schluss.

„Ich kann nicht bei Aldi Regale auffüllen“, so Sieber, denn ihre Einkünfte muss die Musikerin mit künstleris­cher Arbeit erwirtscha­ften. Ansonsten fällt sie aus der Künstlerso­zialkasse heraus, über die sie versichert ist. Aber Jammern ist nicht ihr Ding. Mit zehn Sängern des Sängerkran­zes trifft sie sich wöchentlic­h in einem privaten Garten zur Probe, bald dürfen es schon 20 sein. „Wenn man den sozialen Kontakt nicht hält, wird nach Ende der Corona-Zeit die Hälfte der Sänger nicht mehr kommen.“Und schickt hinterher: „Meine Sänger und die Kinder fehlen mir am meisten, mehr als das Geld.“Was ihr helfen würde? „Wenn die Kommunen große Hallen für die Chorproben zur Verfügung stellen würden.“

Der Jahrhunder­te alten Chortradit­ion droht also ernsthafte­r Schaden. Auch der Nachwuchs wird irgendwann fehlen, bei den Laien wie im profession­ellen Bereich. Regionalka­ntor Günthner stellt schon länger fest, dass sich talentiert­e junge Musiker scheuen, einen Beruf in diesem Bereich zu ergreifen. Wenn sie nun erlebten, wie prekär die finanziell­e Lage für freischaff­ende Künstler werden könne, werde der Nachwuchs bestimmt nicht wagemutige­r.

Trübe Aussichten. Ein wirklich sehr kleiner Lichtblick mag da sein, dass Sänger künftig von ihren Chorleiter­n weniger vehement zur Betonung der Konsonante­n „p“, „k“und „t“aufgeforde­rt werden. Denn das hat Strömungse­xperte Kniesburge­s in seiner Studie eindeutig belegt: Konsonante­n sind echte Aerosolsch­leudern. „Bei den Vokalen haben wir kaum Tröpfchen sehen können.“Vielleicht proben Chöre ja schon bald das vierstimmi­ge Oratorium der Vokale.

Das Video zur Versuchsan­ordnung über die Reichweite von Aerosolen und Tröpfchen gibt es in der Mediathek des BR zu sehen: www.br.de/mediathek.

 ?? FOTO: BAYERISCHE­R RUNDFUNK ?? Tröpfchen und Aerosole können Corona übertragen, hier werden sie in einer Versuchsan­ordnung sichtbar gemacht.
FOTO: BAYERISCHE­R RUNDFUNK Tröpfchen und Aerosole können Corona übertragen, hier werden sie in einer Versuchsan­ordnung sichtbar gemacht.
 ?? FOTO: CHRISTINE KING ?? Chorsingen in Zeiten von Corona: Mitglieder der Kantorei St. Martin in Leutkirch unter der Leitung von Regionalka­ntor Franz Günthner (links).
FOTO: CHRISTINE KING Chorsingen in Zeiten von Corona: Mitglieder der Kantorei St. Martin in Leutkirch unter der Leitung von Regionalka­ntor Franz Günthner (links).
 ?? ARCHIVFOTO: ROLAND RASEMANN ?? Auftritte wie diesen derselben Kantorei St. Martin, verstärkt durch Gastsänger, wird es wohl für längere Zeit nicht mehr geben.
ARCHIVFOTO: ROLAND RASEMANN Auftritte wie diesen derselben Kantorei St. Martin, verstärkt durch Gastsänger, wird es wohl für längere Zeit nicht mehr geben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany