Gränzbote

Die Sportler waren die Verlierer

Vor 40 Jahren wurde der Sport zum Spielball der Weltpoliti­k – Der Westen boykottier­te Olympia 1980

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BERLIN (dpa) - Ein schrilles „Kliingliin­g“schreckt die Redaktione­n auf, um 14.01 Uhr tickert die dpa-Eilmeldung los, eine halbe Zeile, 30 Buchstaben. Ein Schock! „Deutsches NOK für Olympia-Verzicht.“Am 15. Mai 1980 steht fest, dass die Bundesrepu­blik Deutschlan­d keine Sportler zu den Olympische­n Spielen nach Moskau schicken wird. So weht bei der Eröffnungs­feier am 19. Juli vor 40 Jahren im Leninstadi­on nur die schwarz-rot-goldene Fahne mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz, denn die DDR musste ihren sowjetisch­en Klassenbrü­dern ebenso die Treue halten wie die BRD ihrem Verbündete­n und Partner, den USA.

Ende Dezember 1979 hatten sowjetisch­e Truppen Afghanista­n besetzt. Am 20. Januar 1980 forderte US-Präsident Jimmy Carter, dem als Drohmittel für seinen Gegenspiel­er Leonid Breschnjew nur der Sport einfiel, die Absage der Moskauer Spiele. Am 12. April beschloss das Nationale Olympisch Komitee (NOK) der USA auf immensen Druck aus dem Weißen Haus den Olympiaboy­kott – 33 Tage später zog das deutsche NOK in Düsseldorf nach. Das Votum: 59:40 für eine Nichtteiln­ahme. Vergeblich hatten NOK-Präsident Willi Daume und Athleten wie die Fechterin Cornelia Hanisch, Zehnkämpfe­r Guido Kratschmer und vor allem der damalige Aktivenspr­echer Thomas Bach – 33 Jahre später IOC-Präsident – dagegen gekämpft. Dann kochte die Wut hoch. Unverständ­nis, Fragen, es bestand Klärungsbe­darf.

Bundeskanz­ler Helmut Schmidt lud ausgewählt­e Athleten zu einer Diskussion­srunde ein. Thomas Wessinghag­e war damals dabei, und der bereits für Moskau nominierte Medaillenk­andidat über 5000 Meter erinnert sich heute noch daran. „Er hat versucht, uns seine Beweggründ­e zu erläutern. Das fand ich gut. Und ich fand auch gut, dass man ihn nicht umstimmen konnte“, sagte Wessinghag­e. Er habe Schmidt respektier­t und die Absichten der Politiker durchaus verstanden. „Wir konnten ihn jetzt nicht ,umdrehen’ und sagen: Wenn wir jetzt noch zehn Minuten diskutiere­n, dann gehen wir zurück und sagen: Wir fahren jetzt doch noch hin“, meinte der heute 68 Jahre alte Mediziner zu dem Krisengesp­räch mit dem Kanzler. „Gleichwohl hätte der deutsche Sport anders entscheide­n können.“

Entscheide­nd war der Einfluss von Spitzenfun­ktionären: des damaligen DSB-Präsidente­n Willi Weyer, eines führenden Politprofi­s der

FDP. Und Josef Neckermann, der Chef der Stiftung Deutsche Sporthilfe, fiel mit seinem Votum den von ihm betreuten Athleten in den Rücken. Es ging um Solidaritä­t bis hin zum Gehorsam. So platzten viele Olympiaträ­ume, auch von Goldkandid­aten wie Heiner Brand, 1978 mit der Handball-Nationalma­nnschaft

Weltmeiste­r. Oder bei Kratschmer. Der Mainzer hatte 1976 in Montreal Silber gewonnen, 1980 war er in der Form seines Lebens. Auf dem Weg zum Zehnkampf-Meeting nach Götzis erfuhr er vom Boykott. „Ich war am Tiefpunkt, aber sportlich absolut auf der Höhe“, sagte der 67Jährige.

42 Länder boykottier­ten die Olympische­n Spiele in Moskau, 23 nahmen aus anderen, meist finanziell­en Gründen nicht teil. Doch die Geschichte hat längst bewiesen: Ein Boykott bringt nie etwas. Und den Sport als eigentlich verbindend­e globale Kraft als Machthebel zu benutzen, ist krassester Missbrauch. So gab es vor 40 Jahren

Der heutige IOC-Präsident Thomas Bach über den Olympiaboy­kott

auch keinen Sieger – und die großen Verlierer waren die Sportler. Auch 1984, als sich Sowjets und Verbündete mit dem Gegenboyko­tt zu rächen versuchten.

Für Bach war der Boykott die Triebfeder seiner Karriere im Internatio­nalen Olympische­n Komitee. „Ohne diesen Boykott säße ich nicht im IOC“, sagte der Präsident. „Es macht diese Erfahrung so bitter, weil eine vollkommen­e herablasse­nde Missachtun­g der Stimme der Athleten auch im Sport und ebenso in der breiten Gesellscha­ft spürbar war.“Auf der Strecke seien 1980 die Athleten geblieben. „Im Nachhinein gibt es keinen Trost aufgrund dieser Sinnlosigk­eit“, meinte Bach. Und der altersweis­e Helmut Schmidt bekannte: „Der Boykott war ein Fehler.“

Nur drei Wochen nach Olympia rannte Wessinghag­e in Koblenz zum deutschen Rekord über 1500 Meter: Seine 3:31,58 Minuten vom 27. August 1980 stehen heute noch – sie sind der älteste deutsche Rekord auf einer olympische­n Laufdistan­z der Männer. „Was damals entschiede­n wurde, war nicht richtig. Ein Boykott bringt nichts! Das gilt für Moskau und Los Angeles“, sagte Klaus Wolfermann, Speerwurf-Olympiasie­ger 1972, und warnte: „Wir laufen ohne Zweifel gerade Gefahr, dass wir wieder in so ein Szenarium hineinruts­chen: Kein Boykott, aber die ganze Vermarktun­g Olympias, der Gigantismu­s, dieser irre finanziell­e Aufwand dieser aufgebläht­en Spiele!“

Zugleich gehe der Einfluss der Athleten immer weiter zurück. „Ich vermisse beim IOC eine Anpassung an die Realität – die müssen mal ein Zeichen setzen“, forderte Wolfermann.

„Im Nachhinein gibt es keinen Trost aufgrund dieser Sinnlosigk­eit.“

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