Dem EU-Sondergipfel liegt neues Kompromisspapier vor
Offenbar muss Frage der rechtsstaatlichen Standards noch geklärt werden – Konsens beim Konjunkturprogramm
BRÜSSEL (dpa) - Den Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten liegt beim Sondergipfel in Brüssel ein neues Kompromisspapier für das geplante Gesamtpaket aus Corona-Hilfen und langfristigem EU-Haushalt vor. Ob der 66 Seiten umfassende Text die Basis für eine Einigung sein kann, blieb zunächst aber fraglich. So hält EU-Ratspräsident Charles Michel in seinem Vorschlag daran fest, ein neues Instrument zu schaffen, das die Vergabe der Corona- und
Haushalts-Milliarden an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards knüpfen soll. Länder wie Ungarn und Polen hatten zuletzt mehrfach klargemacht, eine solche Verbindung nicht akzeptieren zu wollen.
Konsens gibt es nach Angaben aus EU-Kreisen mittlerweile aber bei der lange umstrittenen Ausgestaltung des Konjunktur- und Investitionsprogramms zur Abfederung der Folgen der Corona-Pandemie. Nach dem am Montagabend verteilten Papier soll es Zuschüsse in Höhe von 390 Milliarden Euro sowie Kredite in Höhe von 360 Milliarden Euro ermöglichen. Die geplante Gesamtsumme von 750 Milliarden Euro bleibt damit unverändert, lediglich das Verhältnis von Zuschüssen und Krediten wird verändert.
Deutschland und Frankreich hatten ursprünglich 500 Milliarden Euro an Zuschüssen gefordert. Sie mussten aber wegen des Widerstands von Österreich, Dänemark,
Schweden, den Niederlanden und Finnland einen Kompromiss eingehen. Diese Länder wollten ursprünglich am liebsten nur Kredite und gar keine Zuschüsse vergeben, um Länder wie Italien zu einer beherzteren Reformpolitik zu bewegen.
Indes steuert der Gipfel auf einen Längenrekord zu. Bisher hält ihn das EU-Treffen in Nizza vor 20 Jahren. Er dauerte rund 90 Stunden. Am frühen Dienstagmorgen wäre der Rekord gebrochen.
BRÜSSEL - Nach vier Tagen und vier Nächten Gipfelgeschacher scheint der Zweck der Veranstaltung einigen Teilnehmern etwas aus dem Blick geraten zu sein. Ursprünglich sollte es darum gehen, gemeinsam, rasch und entschlossen der wohl dramatischsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg zu begegnen. Doch mit jedem Tag, den das Spektakel dauerte, verloren sich die Teilnehmer mehr in kleinlichem Streit und nationalen Interessenkonflikten.
An EU-Ratspräsident Charles Michel, so die Einschätzung aus den berühmten „diplomatischen Kreisen“, hat es diesmal nicht gelegen. Er hat das Finanzpaket gut vorbereitet und zeigte sich erfinderisch darin, widerspenstige Delegationen mit kleinen Zugeständnissen zu ködern. Dennoch waren bis nach langen Debatten zur Einigung am späten Montagnachmittag noch nicht einmal der Umfang des Gesamtpakets und die Frage geklärt, welcher Anteil als Subventionen und welcher als Kredite ausgeschüttet und nach welchen Kriterien das Geld verteilt werden soll.
Die Geberländer Österreich, Niederlande, Dänemark, Schweden und Finnland wollen strenge Kontrollen, damit das ganze schöne Geld nicht in Italien oder Spanien in finsteren Budgetlöchern verschwindet, sondern sinnvoll für neue Technologien und Klimaschutz ausgegeben wird. Gleichzeitig feilschen sie aber um höhere Rabatte für ihre eigenen Länder und sind dafür durchaus bereit, Kürzungen bei eben diesen Zukunftspolitiken in Kauf zu nehmen.
Diese Doppelzüngigkeit, sowie das Misstrauen gegen die Ausgabenpolitik der Südländer, erbittert natürlich ihre Staats- und Regierungschefs. Die Osteuropäer wiederum verbitten sich jegliche Belehrung darüber, was ein ordentlicher Rechtsstaat ist und was nicht. Der gemeinsame Zorn über das als selbstgerecht und oberlehrerhaft empfundene Auftreten von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz und Mark Rutte, Premier der Niederlande, lässt die Südund Osteuropäer enger zusammenrücken, obwohl sie durchaus widerstreitende Interessen haben. Denn von dem gegen die Folgen der Corona-Krise aufgelegten Fonds würden die Osteuropäer deutlich weniger profitieren. Da zudem der Mehrjahreshaushalt kleiner ausfallen wird als zunächst geplant, sind bei Agrarpolitik und Strukturfonds schmerzhafte Einschnitte zu erwarten.
Doch die Frage, wie das Geld am Ende verteilt werden soll, war bis zum späten Montagnachmittag noch nicht einmal andiskutiert. Aus lauter Langeweile beschäftigten sich die Beobachter damit, ob dieser Gipfel in Brüssel das Treffen in Nizza vor zwanzig Jahren an Länge und Zähigkeit noch überbieten wird. Damals ging es um eine dringend überfällige Vertragsreform, die am Ende misslang und vier Jahre später in einer Verfassung für Europa zu Ende geführt werden sollte. Die aber scheiterte am Widerstand der französischen und niederländischen Wähler.
Schon damals war allen Beteiligten klar, dass nach der Osterweiterung eine um weitere zehn Mitglieder gewachsene Union die Kraft zur Reform wohl nicht mehr aufbringen würde. Deshalb leidet die EU bis heute an schwerfälligen Strukturen, mit denen sie Aufgaben wie grenzüberschreitende Pandemievorsorge, Rüstungsbeschaffung, Außenpolitik, internationale Handelsabkommen oder die Entwicklung eines Impfstoffes nicht mehr bewältigen kann.
Wahrscheinlich würden nicht einmal die 27 Regierungschefs, die sich in Brüssel tage- und nächtelang die Köpfe heißreden, diese Form der Entscheidungsfindung als besonders zielführend bezeichnen. Die Fragen sind viel zu wichtig und komplex, als dass am Ende nicht die besseren Argumente zählen, sondern das solidere Sitzfleisch den Ausschlag gibt. Auch der Ansatz, für das eigene Land möglichst viel herauszuschlagen, führt nicht zu einem modernen, problemorientierten Budget.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron war die Irritation darüber anzumerken, dass ihr schon früh ins Spiel gebrachter deutschfranzösischer Vorschlag für einen großzügigen Wiederaufbaufonds nicht die Dynamik entwickelte, die früher entstand, wenn sich Deutschland und Frankreich einig waren. Die „sparsamen Fünf“Holland, Dänemark, Schweden, Finnland und Österreich sehen nicht ein, dass sie die Zeche mit zahlen sollen, nur weil sich Merkel und Macron so wunderbar verstehen. Obwohl ihnen die Rückendeckung durch Großbritannien nun fehlt, zeigen sie ein erstaunliches Selbstbewusstsein.
Nur eine grundlegende Vertragsreform kann dafür sorgen, dass die EU ihren Aufgaben wieder besser gewachsen ist. Auf eine solche Reform aber werden sich die 27 Mitgliedsstaaten in ihrer aktuellen Verfassung, mit derart gegensätzlichen Vorstellungen von Demokratie und Ökonomie, niemals einigen.