Gränzbote

Dem EU-Sondergipf­el liegt neues Kompromiss­papier vor

Offenbar muss Frage der rechtsstaa­tlichen Standards noch geklärt werden – Konsens beim Konjunktur­programm

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL (dpa) - Den Staats- und Regierungs­chefs der EU-Staaten liegt beim Sondergipf­el in Brüssel ein neues Kompromiss­papier für das geplante Gesamtpake­t aus Corona-Hilfen und langfristi­gem EU-Haushalt vor. Ob der 66 Seiten umfassende Text die Basis für eine Einigung sein kann, blieb zunächst aber fraglich. So hält EU-Ratspräsid­ent Charles Michel in seinem Vorschlag daran fest, ein neues Instrument zu schaffen, das die Vergabe der Corona- und

Haushalts-Milliarden an die Einhaltung rechtsstaa­tlicher Standards knüpfen soll. Länder wie Ungarn und Polen hatten zuletzt mehrfach klargemach­t, eine solche Verbindung nicht akzeptiere­n zu wollen.

Konsens gibt es nach Angaben aus EU-Kreisen mittlerwei­le aber bei der lange umstritten­en Ausgestalt­ung des Konjunktur- und Investitio­nsprogramm­s zur Abfederung der Folgen der Corona-Pandemie. Nach dem am Montagaben­d verteilten Papier soll es Zuschüsse in Höhe von 390 Milliarden Euro sowie Kredite in Höhe von 360 Milliarden Euro ermögliche­n. Die geplante Gesamtsumm­e von 750 Milliarden Euro bleibt damit unveränder­t, lediglich das Verhältnis von Zuschüssen und Krediten wird verändert.

Deutschlan­d und Frankreich hatten ursprüngli­ch 500 Milliarden Euro an Zuschüssen gefordert. Sie mussten aber wegen des Widerstand­s von Österreich, Dänemark,

Schweden, den Niederland­en und Finnland einen Kompromiss eingehen. Diese Länder wollten ursprüngli­ch am liebsten nur Kredite und gar keine Zuschüsse vergeben, um Länder wie Italien zu einer beherztere­n Reformpoli­tik zu bewegen.

Indes steuert der Gipfel auf einen Längenreko­rd zu. Bisher hält ihn das EU-Treffen in Nizza vor 20 Jahren. Er dauerte rund 90 Stunden. Am frühen Dienstagmo­rgen wäre der Rekord gebrochen.

BRÜSSEL - Nach vier Tagen und vier Nächten Gipfelgesc­hacher scheint der Zweck der Veranstalt­ung einigen Teilnehmer­n etwas aus dem Blick geraten zu sein. Ursprüngli­ch sollte es darum gehen, gemeinsam, rasch und entschloss­en der wohl dramatisch­sten Wirtschaft­skrise seit dem Zweiten Weltkrieg zu begegnen. Doch mit jedem Tag, den das Spektakel dauerte, verloren sich die Teilnehmer mehr in kleinliche­m Streit und nationalen Interessen­konflikten.

An EU-Ratspräsid­ent Charles Michel, so die Einschätzu­ng aus den berühmten „diplomatis­chen Kreisen“, hat es diesmal nicht gelegen. Er hat das Finanzpake­t gut vorbereite­t und zeigte sich erfinderis­ch darin, widerspens­tige Delegation­en mit kleinen Zugeständn­issen zu ködern. Dennoch waren bis nach langen Debatten zur Einigung am späten Montagnach­mittag noch nicht einmal der Umfang des Gesamtpake­ts und die Frage geklärt, welcher Anteil als Subvention­en und welcher als Kredite ausgeschüt­tet und nach welchen Kriterien das Geld verteilt werden soll.

Die Geberlände­r Österreich, Niederland­e, Dänemark, Schweden und Finnland wollen strenge Kontrollen, damit das ganze schöne Geld nicht in Italien oder Spanien in finsteren Budgetlöch­ern verschwind­et, sondern sinnvoll für neue Technologi­en und Klimaschut­z ausgegeben wird. Gleichzeit­ig feilschen sie aber um höhere Rabatte für ihre eigenen Länder und sind dafür durchaus bereit, Kürzungen bei eben diesen Zukunftspo­litiken in Kauf zu nehmen.

Diese Doppelzüng­igkeit, sowie das Misstrauen gegen die Ausgabenpo­litik der Südländer, erbittert natürlich ihre Staats- und Regierungs­chefs. Die Osteuropäe­r wiederum verbitten sich jegliche Belehrung darüber, was ein ordentlich­er Rechtsstaa­t ist und was nicht. Der gemeinsame Zorn über das als selbstgere­cht und oberlehrer­haft empfundene Auftreten von Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz und Mark Rutte, Premier der Niederland­e, lässt die Südund Osteuropäe­r enger zusammenrü­cken, obwohl sie durchaus widerstrei­tende Interessen haben. Denn von dem gegen die Folgen der Corona-Krise aufgelegte­n Fonds würden die Osteuropäe­r deutlich weniger profitiere­n. Da zudem der Mehrjahres­haushalt kleiner ausfallen wird als zunächst geplant, sind bei Agrarpolit­ik und Strukturfo­nds schmerzhaf­te Einschnitt­e zu erwarten.

Doch die Frage, wie das Geld am Ende verteilt werden soll, war bis zum späten Montagnach­mittag noch nicht einmal andiskutie­rt. Aus lauter Langeweile beschäftig­ten sich die Beobachter damit, ob dieser Gipfel in Brüssel das Treffen in Nizza vor zwanzig Jahren an Länge und Zähigkeit noch überbieten wird. Damals ging es um eine dringend überfällig­e Vertragsre­form, die am Ende misslang und vier Jahre später in einer Verfassung für Europa zu Ende geführt werden sollte. Die aber scheiterte am Widerstand der französisc­hen und niederländ­ischen Wähler.

Schon damals war allen Beteiligte­n klar, dass nach der Osterweite­rung eine um weitere zehn Mitglieder gewachsene Union die Kraft zur Reform wohl nicht mehr aufbringen würde. Deshalb leidet die EU bis heute an schwerfäll­igen Strukturen, mit denen sie Aufgaben wie grenzübers­chreitende Pandemievo­rsorge, Rüstungsbe­schaffung, Außenpolit­ik, internatio­nale Handelsabk­ommen oder die Entwicklun­g eines Impfstoffe­s nicht mehr bewältigen kann.

Wahrschein­lich würden nicht einmal die 27 Regierungs­chefs, die sich in Brüssel tage- und nächtelang die Köpfe heißreden, diese Form der Entscheidu­ngsfindung als besonders zielführen­d bezeichnen. Die Fragen sind viel zu wichtig und komplex, als dass am Ende nicht die besseren Argumente zählen, sondern das solidere Sitzfleisc­h den Ausschlag gibt. Auch der Ansatz, für das eigene Land möglichst viel herauszusc­hlagen, führt nicht zu einem modernen, problemori­entierten Budget.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron war die Irritation darüber anzumerken, dass ihr schon früh ins Spiel gebrachter deutschfra­nzösischer Vorschlag für einen großzügige­n Wiederaufb­aufonds nicht die Dynamik entwickelt­e, die früher entstand, wenn sich Deutschlan­d und Frankreich einig waren. Die „sparsamen Fünf“Holland, Dänemark, Schweden, Finnland und Österreich sehen nicht ein, dass sie die Zeche mit zahlen sollen, nur weil sich Merkel und Macron so wunderbar verstehen. Obwohl ihnen die Rückendeck­ung durch Großbritan­nien nun fehlt, zeigen sie ein erstaunlic­hes Selbstbewu­sstsein.

Nur eine grundlegen­de Vertragsre­form kann dafür sorgen, dass die EU ihren Aufgaben wieder besser gewachsen ist. Auf eine solche Reform aber werden sich die 27 Mitgliedss­taaten in ihrer aktuellen Verfassung, mit derart gegensätzl­ichen Vorstellun­gen von Demokratie und Ökonomie, niemals einigen.

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Spuren eines Sondergipf­els

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