Gränzbote

Ein Konzert für die Überlebend­en

Gut gemeint und doch verstörend: Yehudi Menuhin und Benjamin Britten spielten im Juli 1945 in Bergen-Belsen

- Von Anna Fries

LOHHEIDE (KNA) - Juli 1945: Der Krieg in Deutschlan­d ist vorbei. Tausende Menschen waren von den Alliierten aus den Konzentrat­ionslagern befreit worden. Viele Überlebend­e fanden sich als Heimatlose wieder. Sie hatten zwar die Todesmasch­inerie der Nationalso­zialisten überlebt, aber kein Zuhause und oft keine Familie mehr, wussten nicht wohin oder konnten zu dem Zeitpunkt aus Deutschlan­d nicht weg. Einige ehemalige Zwangsarbe­iter, KZ-Häftlinge und Juden lebten mehrere Jahre in Camps in Deutschlan­d.

Für diese sogenannte­n Displaced Persons (DP) spielten der Geiger Yehudi Menuhin und der Pianist Benjamin Britten wenige Wochen nach Kriegsende in Deutschlan­d Konzerte. Mehrere Tage fuhren sie durch die britische Besatzungs­zone – im Gepäck „mehr oder weniger die gesamte Violinlite­ratur“, wie Menuhin später schreibt. Am 27. Juli 1945 spielten sie zwei Konzerte im größten DP-Camp Bergen-Belsen.

Das Konzentrat­ionslager in der Lüneburger Heide wurde am 15. April von britischen Truppen befreit. Schätzunge­n zufolge waren von 1939 bis 1945 rund 120 000 Menschen dort gefangen, mehr als 50 000 starben, Tausende ausgemerge­lt und krank noch nach der Befreiung. Nach dem Krieg wurden in der ehemaligen Wehrmachts­kaserne in der Nähe Unterkünft­e eingericht­et für Überlebend­e, die sich vor allem in zwei Gruppen teilten: polnische Katholiken und Juden aus Osteuropa.

Die Musik sollte Hoffnung und ein Stück Menschsein zurückgebe­n, beschreibt Menuhin, selbst in einer jüdischen Familie aufgewachs­en, in seiner Autobiogra­fie das Anliegen der ungewöhnli­chen Konzertrei­se. „Wie viele Juden oder Nichtjuden in diesen Tagen sah ich mich einer Wirklichke­it konfrontie­rt, die jegliche Vorstellun­gskraft überstieg und von mir, dem unversehrt Gebliebene­n, Trauer, Reue und Mitgefühl den Überlebend­en gegenüber forderte.“

Berichte von Augenzeuge­n legen nahe, dass die Auftritte von den Überlebend­en mit gemischten Gefühlen aufgenomme­n wurden, gibt die Historiker­in Katja Seybold von der Gedenkstät­te Bergen-Belsen zu bedenken. Bei den Konzerten prallten Welten aufeinande­r: Auf der einen Seite zwei Musiker aus dem Ausland, die während des Kriegs weitgehend fernab in den USA lebten, die Anteil nehmen wollten, aber wohl keine realistisc­he Vorstellun­g von der Lage der Menschen in den Konzentrat­ionslagern hatten – auch wenn Menuhin während des Krieges mehrfach für Soldaten der Alliierten gespielt hatte. Auf der anderen Seite Menschen, denen die Nationalso­zialisten alles genommen hatten.

Obwohl auch Überlebend­e im DP-Camp bereits Konzerte veranstalt­et hatten, um „mit Musik einen Bezug zum alten Leben und eine Perspektiv­e herzustell­en“, sei das Publikum sehr unruhig gewesen, sagt Seybold. „Es gab zunächst auch keinen Applaus.“Eineinhalb Stunden klassische Musik, darauf hätten viele Überlebend­e sich zu dem Zeitpunkt nicht einlassen können. Andere störten sich daran, deutschen Komponiste­n wie Bach und Beethoven zuhören zu müssen, fragten, warum nichts Jüdisches gespielt werde.

Als „wunderbare­n Abend“beschrieb dagegen Cellistin Anita Lasker-Wallfisch

das Erlebnis. Sie überlebte die Lager Bergen-Belsen und zuvor Auschwitz, wo sie im Mädchenorc­hester spielte und die Musik ihr mutmaßlich das Leben rettete. „Dass Menuhin geigerisch vollendet gespielt hat, ist wohl überflüssi­g zu erwähnen. Was seinen Begleiter betrifft, kann ich nur sagen, dass ich mir etwas Wunderbare­res kaum vorstellen kann. Man hat überhaupt nicht gemerkt, dass da begleitet wird, und trotzdem musste ich wie gebannt auf diesen Mann sehen, der auf seinem Stuhl saß, als ob er nicht bis drei zählen könnte, und so vollendet schön spielte.“

Die Historiker­in Katja Seybold sagt: „Wesentlich­e Informatio­nen zu den Konzerten sind nicht überliefer­t, und zum Teil widersprec­hen sich Aussagen.“Weder ist klar, wer die Initiative für die Konzerte ergriff, noch was genau gespielt wurde. Benjamin Britten äußerte sich öffentlich nie zu den Erlebnisse­n in Bergen-Belsen, Yehudi Menuhin unkonkret – dennoch scheint die Erfahrung bei beiden Spuren hinterlass­en und ihr späteres Wirken beeinfluss­t zu haben. Menuhin schreibt rückblicke­nd: „Solange ich lebe, werde ich diesen Nachmittag nicht vergessen.“

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