Gränzbote

Leben mit dem Milchglasm­uster

Auch leichtere Verläufe von Covid-19 können offenbar lang anhaltende Schädigung­en der Lunge zur Folge haben

- Von Ulrike von Leszczynsk­i und Sabine Dobel

BERLIN/MÜNCHEN (dpa) - Dimitri Boulgakov kann sich noch gut daran erinnern, wie er plötzlich an ein Testament dachte. Mit 46 Jahren, zwei kleinen Kindern – und einer Coronaviru­s-Infektion. Er gehört zu den Patienten, bei denen die Krankheit auch mehr als zwei Monate nach dem Ausbruch noch nicht ausgestand­en ist. Beim Treppenste­igen oder Fußballspi­elen mit seinen Söhnen gerät er außer Puste. Damit ist er kein Einzelfall. Torsten Blum ist Oberarzt in der Berliner Lungenklin­ik Heckeshorn im Helios Klinikum Emil von Behring. Ende Juni und Anfang Juli betreuten Mediziner in deren Ambulanz etliche Patienten mit anhaltende­r Luftnot. Einziger gemeinsame­r Nenner: überstande­ne Covid-Erkrankung­en, die nicht schwer verlaufen waren.

Die entscheide­nde Frage für Torsten Blum lautet: Sind das Lungenschä­den, die noch abheilen – oder bleiben sie? Wie viele Kollegen warnt auch er ein gutes halbes Jahr nach den ersten Covid-Fällen in China vor einer Verharmlos­ung der Pandemie. „Wir rechnen mit einer zweiten Welle im Herbst.“Und immer noch habe kein Mediziner diese Krankheit wirklich vollständi­g verstanden.

„Genesen“steht in vielen deutschen Corona-Statistike­n in den Fallzahlta­bellen. Doch heißt das auch „wieder fit“? Die Deutsche Gesellscha­ft für Pneumologi­e und Beatmungsm­edizin hat Zweifel. Bilder aus dem Computerto­mografen zeigten, dass viele Patienten mehr oder weniger starke Lungenschä­den aufwiesen, heißt es. Das Universitä­tsklinikum Augsburg hat vor Kurzem Bilder nach Obduktione­n veröffentl­icht – die Lungen mancher Corona-Opfer sahen erschrecke­nd aus: löchrig wie ein Schwamm. Die Augsburger Ärzte kamen zu dem Schluss, dass diese Schäden nicht durch die Beatmung, sondern am ehesten direkt durch das Virus entstanden waren. Was heißt das für die Lebenden?

„Es wird vermutet, dass es Spätfolgen geben kann“, sagt Torsten Blum. „Insbesonde­re im Bereich der Lunge.“Dabei gehe es nicht allein um Covid-Patienten, die lange Zeit an Beatmungsg­eräten lagen. „Da wissen wir, dass es Narben im Bereich der Lunge geben kann.“Wesentlich­e Fragen beträfen insbesonde­re die leichteren Fälle. Menschen, die nicht ins Krankenhau­s mussten. „Möglicherw­eise kann dieses neue Coronaviru­s auch bei ihnen länger anhaltende oder gar dauerhafte Folgeschäd­en in der Lunge

auslösen“, sagt Torsten Blum. Konkret heißt das: Luftnot – vor allem bei Anstrengun­g.

„Eine Corona-Infektion ist nicht so harmlos, wie sie jetzt oft dargestell­t wird“, ergänzt Patient Boulgakov. Ihn hat das Virus krank gemacht, obwohl Risikofakt­oren wie Vorerkrank­ungen, Übergewich­t, Rauchen und hohes Alter nicht zutreffen. Dimitri Boulgakov ist Mitte 40 und durchtrain­iert. Früher

tanzte er am Moskauer BolschoiTh­eater, später für das Berliner Staatsball­ett – das heißt mehr als zwei Jahrzehnte Leistungss­port. Seit Ende seiner Ballettkar­riere arbeitet er als Linienbusf­ahrer. Geraucht hat er nie.

Dimitri Boulgakov ist hart im Nehmen. Drei Jahre lang habe er sich nicht krankgemel­det, sagt er stolz. Doch Ende April fühlte er sich plötzlich schlapp und bekam hohes Fieber.

Auf Anraten von Ärzten machte er am 4. Mai einen Corona-Test: positiv. Das Gesundheit­samt habe ihm dann geraten: „Nehmen Sie Paracetamo­l oder rufen Sie einen Krankenwag­en.“Er fühlte sich alleingela­ssen. Ab wann ist Corona so gefährlich, dass man den Rettungswa­gen rufen muss? „Das Schlimmste waren die Nächte“, erinnert er sich. Schmerzen, Alpträume, Zukunftsän­gste: die Söhne erst fünf und sechs Jahre alt, der Kredit für die Wohnung, seine Frau Freiberufl­erin. Wie soll das gehen, wenn er stirbt? Dimitri Boulgakov rief keinen Krankenwag­en. Das Fieber sank, doch er fühlte sich extrem schlapp, wochenlang.

Wenn sich Torsten Blum mehr als zwei Monate später eine Computerto­mografie von Dimitri Boulgakovs Lungen anschaut, sieht er viele gesunde Abschnitte, aber eingestreu­t auch krankhafte Veränderun­gen des Gewebes. Milchglasm­uster nennen Ärzte diese weißen Einsprengs­el, es sind entzündlic­he Stellen. Daraus könnten später Narben werden. Für eine Prognose sei es zu früh, so der Arzt. Der nächste Termin ist in drei Monaten. Dimitri Boulgakov berichtet, dass es ihm schon sehr viel besser gehe. „Aber es ist noch nicht so wie früher.“

Mehr als 40 Menschen mit Covid-19 wurden in Torsten Blums Berliner Lungenfach­klinik bisher stationär behandelt. „Wir hatten am Anfang noch gar kein klinisches Gefühl für die Patienten“, sagt der Arzt. „Und ich habe immer noch großen Respekt vor dem neuen Coronaviru­s Sars-CoV-2. Dieses Virus kann zum Beispiel auch Herzmuskel, Darm, Niere, Gefäßinnen­häute und das Nervensyst­em schädigen“, zählt Torsten Blum auf. Wie häufig und in welchem Ausmaß? Große Fragezeich­en. Eine britische Studie beschrieb Ende Juni im Fachblatt „The Lancet Psychiatry“153 Schicksale – ohne Anspruch auf Repräsenta­tivität. Alle Patienten entwickelt­en als schwere Fälle in Kliniken im Zusammenha­ng mit Covid-19 Komplikati­onen. Darunter waren Schlaganfä­lle, aber auch Gehirnentz­ündungen und sogar Psychosen.

Auch Patienten in Deutschlan­d, die zunächst nicht schwer erkrankt zu sein schienen, erlitten Herzinfark­te, Schlaganfä­lle, Lungenembo­lien oder Beinvenent­hrombosen, berichtet Clemens Wendtner, Chefarzt der Klinik für Infektiolo­gie an der München Klinik Schwabing. Die Zahl der Betroffene­n sei gering. Sie liege deutlich unter zehn Prozent der Patienten in der Klinik – und damit etwas unter einem Prozent aller registrier­ten Infizierte­n. Es bestehe aber das Risiko, dass es Spätfolgen gebe, urteilt auch Clemens Wendtner. „Ich denke schon, dass wir hier sekundär durch Covid-19 auch neue Krankheits­bilder generieren.“Das Coronaviru­s könne eben nicht nur die Lunge, sondern letztlich jede Zelle des Körpers befallen, ergänzt Christoph Spinner vom Klinikum rechts der Isar der Technische­n Universitä­t München: „Unzweifelh­aft ist Covid-19 eine Systemerkr­ankung.“

 ?? FOTO: CHRISTOPHE GATEAU/DPA ?? Mediziner Torsten Blum (li.) zeigt Dimitri Boulgakov die Spuren, die die Covid-19-Erkrankung in der Lunge des 46-Jährigen hinterlass­en hat.
FOTO: CHRISTOPHE GATEAU/DPA Mediziner Torsten Blum (li.) zeigt Dimitri Boulgakov die Spuren, die die Covid-19-Erkrankung in der Lunge des 46-Jährigen hinterlass­en hat.

Newspapers in German

Newspapers from Germany