„Als Rektor verwaltet man den Personalmangel“
Lotte Lehmann geht in Pension und zieht Bilanz über ihre Zeit an der Friedensschule
TROSSINGEN - Keinen Bock auf Schule, das Gefühl kennt Lotte Lehmann, Rektorin der Friedensschule Trossingen, nur zu gut. Als 17-Jährige schmiss sie das Gymnasium und jobbte ein Dreivierteljahr als Hilfsarbeiterin in einer Motorenfabrik. In ihrer Laufbahn als Lehrerin hat sie von dieser Erfahrung profitiert.
„Im Januar habe ich es noch bereut, dass ich meine Pensionierung für diesen Sommer geplant habe. Aber dann kam Corona und jetzt bin ich ehrlich froh“, sagt Lotte Lehmann beim Gespräch in ihrem Büro. Denn die vergangenen Monate, die hätten nicht mehr viel mit dem eigentlichen Job einer Lehrerin zu tun gehabt. „Als Rektorin hat man sowieso weniger Kontakt zu den Schülern, weil man keine Klassenlehrerin mehr ist“, sagt sie. Aber mit Beginn der Pandemie wurde sie fast vollständig in die Rolle der Planerin und Umplanerin gedrängt. „Jede Woche kommen neue Informationen vom Kultusministerium und jede Woche wird dadurch alles über den Haufen geworfen.“Ein paar Stunden Mathe und Bildende Kunst hat sie aber in diesem außergewöhnlichen Schuljahr trotzdem gegeben. „Unterrichten macht mir Spaß“, sagt sie. „Doch ich merke auch, dass man, je älter man wird, den Kontakt zu den Kindern verliert. Wenn ich mich mit ihnen unterhalte, dann sprechen sie über Filme und Spiele, von denen ich noch nie gehört habe“, sagt sie und fügt lachend hinzu: „Früher, zu Beginn meiner Laufbahn, habe ich immer mal wieder Großeltern eingeladen, damit sie im Unterricht darüber erzählt haben, wie es früher in der Schule war. Das muss ich seit ein paar Jahren nicht mehr machen, ich bin jetzt ja selbst im Oma-Alter.“Lotte Lehmann lacht oft im Gespräch mit der Zeitung. Ihr ist eine gewisse Entspanntheit
eigen, die sie in einem anderen Gespräch mal so formuliert hat: „Man muss wissen, ob etwas wert ist, sich darüber aufzuregen.“Bei der 63-Jährigen resultiert diese Einstellung aus der Lebenserfahrung: Als sie neun Jahre alt war starb ihre Mutter, als Erwachsene hatte sie einen Autounfall, den sie nur knapp überlebt hat.
Wenn sie im August in Pension geht, dann liegt ein ungewisser Herbst vor allen Schulen. Denn sollten die Fallzahlen wieder steigen, könnten die gerade durchgesetzten Lockerungen, dass Grundschüler wieder im Klassenverband ohne Abstand unterrichtet werden, wieder aufgehoben werden. Im schlimmsten Fall könnte es zur erneuten Schließung von Schulen kommen. „Das wäre verheerend“, sagt Lehmann. Nicht, weil die Schüler den ersten Lockdown nicht gut verkraftet haben – „die haben das super mit dem Heimunterricht gemacht und kamen quietschvergnügt zurück zur Schule“, sondern weil ein Schulbetrieb auf Dauer so natürlich nicht laufen könne. „Die Friedensschule ist gut aufgestellt, das Lehrerteam, das meine kommissarische Leitung übernimmt, hat Pläne erarbeitet und kann sie der jeweiligen Situation anpassen“, sagt sie. Denn eins hat sie in den vergangen Monaten auch gelernt: „Ständig ändert sich etwas und das sehr kurzfristig.“
Doch stressig sei der Job auch vor Corona gewesen. „Wenn wie letzte Wochen drei Lehrer gleichzeitig krank sind oder man einen Langzeitkranken im Team hat, dann muss man mit den Vertretungsmöglichkeiten jonglieren. Eigentlich verwaltet man als Rektor den Personalmangel“, sagt sie und spricht die größte Herausforderung der vergangenen Jahre an. „Als ich als Rektorin angefangen habe, gab es eine Lehrerschwemme. Auf eine Ausschreibung haben wir mal 82 Bewerbungen bekommen. Seit acht, neun Jahren herrscht nun aber ein massiver Mangel an Grundschullehrern.“Die Hoffnung sei immer, für jede Klasse eine Klassenlehrerin zu finden. „Kindern ist es sehr wichtig, eine feste Bezugsperson zu haben. Aber sie passen sich zum Glück einer neuen, anderen Situation auch gut an“, sagt sie. Optimal sei die Situation aber trotzdem nicht. „Eine jetzige Klasse ist ohne Klassenlehrerin, weil die Kollegin in Elternzeit gegangen ist. Die Klasse ist wie umgedreht: Früher war das eine ruhige Klasse, jetzt fragt sogar die Putzfrau nach, was los ist.“Für das kommende Schuljahr sind noch nicht alle Lehrerstellen besetzt: „Da muss man hoffen, dass sich was innerhalb der Ferien tut“, weiß Lehmann aus Erfahrung.
In die allgemeine Schelte, dass Kinder heutzutage anstrengender seien als früher, will Lotte Lehmann, die selbst drei Kinder und mittlerweile drei Enkelkinder hat, nicht einfallen. „Sie sind oft wuseliger und manchmal auch unkonzentrierter“, sagt sie, zweifelt aber daran, dass ausschließlich Fernsehen und Computer daran Schuld trügen. „Manchmal ist das auch die Folge des Familienlebens. Wenn es dort Probleme gibt oder die Jungen und Mädchen Ängste um ihre Großeltern haben, dann wundert es nicht, dass sie unkonzentriert sind.“Die meisten Räume in der Friedensschule sind fast zu klein für die großen Klassen, die in starken Jahrgängen auch mal aus 29 Schülern bestehen können. „In den engen Räumen ist dann nicht viel mit der Idee des bewegten Klassenzimmers zu wollen.“
In den vergangen Jahrzehnten, Lotte Lehmann war erst Lehrerin, dann Konrektorin und schließlich Rektorin, hat sie viele Entwicklungen in Trossingen mitbekommen. „Als Anfang der 90er Jahre die Russlanddeutschen
kamen, da konnten wir es gut durchsetzen, dass alle in der Schule Deutsch sprachen. Das ist für das Miteinander, aber natürlich besonders für das Erlernen der Sprache wichtig.“So einfach sei das derzeit mit den Kindern, die aus Rumänien gekommen sind, nicht immer. „Manche sind wirklich sehr offen, andere kapseln sich ab. Dass auf dem Schulhof Deutsch als gemeinsame Sprache gilt, das bekommen wir nicht mehr durchgesetzt“, bedauert Lehmann. Immer wieder werden Übersetzer für Elterngespräche gebraucht. Dann müsse auch mal der Hausmeister ran, der beide Sprachen spricht. Und trotzdem: „Die Kinder gehen alle ihren Weg“, lässt die Rektorin keine Zweifel aufkommen.
Dass Lotte Lehmann überhaupt als Lehrerin arbeiten konnte, war nicht immer abzusehen. „Als ich mich mit 17 von der Schule abgemeldet habe, hat mein Vater mich als Hilfsarbeiterin in einer Motorenfabrik untergebracht. Das war harte Arbeit. Durch eine Freundin bin ich nach einem Dreivierteljahr doch wieder zur Schule gegangen, aber an eine andere, und habe da gelernt: Schule kann Spaß machen.“Die unerwartete Wertschätzung, die ihr an der neuen Schule zuteil wurde, spornte Lehmann an. Sie entschied sich für ein Lehramtsstudium und wurde danach erst mal ausgebremst. „Damals gab es zu viele Lehrer, man brauchte sehr gute Abschlüsse, um überhaupt eine Stelle zu bekommen.“Weil ihr Schnitt unter dem geforderten lag, arbeitete sie erst mal für eine Firma, die Lernprogramme anbot. „Man konnte sich auf eine Liste setzen lassen, wenn jemand im Schuldienst ausfiel. Eigentlich hieß es, dass ich mit drei bis vier Jahren Wartezeit rechnen müsse“, erinnert sie sich. Doch dann ging alles ganz schnell: „Mir wurde eine Stelle an der Friedensschule angeboten und meiner Familie und mir blieb ein Monat, um von unserem damaligen Wohnort Frankfurt hier her umzuziehen. Mein Mann hat unbezahlten Urlaub genommen und unsere jüngste Tochter hatte noch nicht mal einen Kindergartenplatz“, fasst sie die turbulente Zeit zusammen. Die damalige Entscheidung habe sie nie bereut, versichert Lotte Lehmann, die sich auch über Jahre im Personalrat engagiert hat. „Ich würde das Gleiche jederzeit wieder machen“, sagt sie und man glaubt ihr, dass sie gedanklich noch gar nicht den Ruhestand vor Augen hat. „Ich muss jetzt immer aufpassen, dass ich nicht sage, dass ‚wir‘ etwas im kommenden Herbst so und so machen, denn das macht die Friedensschule dann ohne mich“, sagt sie und lacht.