Platznot in der Psychiatrie
Maßregelvollzug für Straftäter ist weiter überbelegt
STUTTGART (tja) - Für psychisch kranke Straftäter fehlen in BadenWürttemberg mehr als 200 Plätze. Regulär stehen davon landesweit rund 1000 zur Verfügung, aktuell werden aber mehr als 1220 Patienten in den Zentren für Psychiatrie (ZfP) behandelt. Damit ist die Lage noch angespannter als vor einem Jahr, als es noch 1205 Insassen waren. Das teilte das Gesundheitsministerium auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“mit.
Im Maßregelvollzug werden verurteilte Straftäter untergebracht, die entweder psychisch erkrankt sind oder an einer Sucht leiden. Sie haben Anspruch auf einen unverzüglichen Therapiebeginn. Da der wegen der Überbelegung aber nicht gewährleistet werden kann, musste bereits mindestens ein Insasse aus dem Gefängnis entlassen werden, wo er auf seine Therapie wartete. Im Herbst sollen Container an mehreren ZfP Patienten aufnehmen.
STUTTGART - Platznot für psychisch kranke Straftäter: In BadenWürttemberg sind die psychiartrischen Einrichtungen weiter stark überbelegt. Laut Sozialministerium gab es Ende Mai 1226 Patienten und Patientinnen im Maßregelvollzug – bei nur rund 1000 Plätzen. In mindestens einem Fall musste ein Verurteilter deshalb freigelassen werden.
Im Frühjahr 2019 entkamen gleich fünf Männer aus den Kliniken der ZfP, alle davon sollten dort einen Entzug absolvieren – und konnten später wieder aufgegriffen werden. Bei der Aufarbeitung des Vorfalls wurde dann klar: Die Zahl der Insassen im Maßregelvollzug liegt deutlich über den vorhandenen Plätzen. Dort landen Menschen, die eine Straftat begangenen haben , ihre Haft aus Sicht der Richter aber zumindest zunächst nicht in einem Gefängnis absitzen können. Einige, weil sie psychisch krank, andere, weil sie suchtkrank sind. Sie werden in BadenWürttembeg in den Zentren für Psychiatrie (ZfP) untergebracht, unter anderem in Weissenau, Bad Schussenried und Zwiefalten.
Landesweit hat sich die Lage noch nicht verbessert. „Die Situation im Maßregelvollzug ist nach wie vor angespannt“, so eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“. Besondere Probleme bereiten jene Insassen, die einen Entzug machen sollen. Ihre Zahl steigt seit Jahren, derzeit sind etwa 460 Menschen deshalb in einem ZfP. Eigentlich sollen sie von Alkohol oder Drogen entwöhnt werden. Ein erfolgreicher Entzug kann dazu führen, dass ein Teil der Strafe erlassen wird. Immer häufiger versuchen Kriminelle, diesen Umstand auszunutzen. Lieber Klinik als Knast, so das Motto.
Udo Frank, Leiter des Maßregelvollzugs des ZfP Südwürttemberg, erklärt: „Mittlerweile können Sie sich im Internet Videos anschauen, in denen erklärt wird, wie man eine Sucht am besten vortäuscht.“Die Straftäter landen dann in den Einrichtungen, blockieren Therapieplätze für andere – und behindern den Entzug der wirklich Kranken. Viele seien sozial gestört, reagierten aggressiv auf Therapieversuche.
Die Probleme in diesem Bereich hätten aber nichts mit dem Zwischenfall im Juni in Bad Schussenried zu tun, betont Frank. Dort waren ein Mann und eine Frau, beide Patienten
der Klinik, in der Innenstadt in Streit geraten, die Polizei griff ein und erschoss einen der beiden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Beide waren wegen Straftaten verurteilt, saßen aufgrund psychischer Störungen aber im Maßregelvollzug. Frank betont jedoch, beide hätten gut auf Behandlung angesprochen und von ihren Ärzten sehr günstige Prognosen ausgestellt bekommen.
Vor einem Jahr hatte Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) versprochen, Abhilfe für die Platznot zu schaffen. Es sollten Container aufgestellt werden. Aber bis die ersten Behelfsunterkünfte bezogen werden können, dauert es noch.
Frühstens im Herbst sind die ersten fertiggestellt. Insgesamt sollen so knapp 45 neuen Plätze für Suchtkranke entstehen. Die Modulbauten müssen den Sicherheitsanforderungen ebenso entsprechen wie den medizinischen. Matthias Wagner, Chefarzt der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie in Calw, erklärt, warum es bis zur Inbetriebnahme mehr als ein Jahr dauert: Der Kauf dieser Containeranlage, bauliche Anpassung, die Akquise von qualifizierten Mitarbeitern, Einarbeitung, Baugenehmigung, die Entwicklung eines Behandlungskonzepts nehmen eine gewisse Zeit in Anspruch.“In der ZfP Zwiefalten hat sich die Lage bereits entspannt. Dort finanzierte das Land den Umbau eines frei gewordenen Gebäudes auf dem Gelände. Wenn alles fertig ist, sollen rund 30 neue Plätze verfügbar sein, „Der Belegungsdruck im Maßregelvollzug hat sich reduziert, insgesamt ist die Belegung aber weiter hoch“, so Frank.
Eine endgültige Lösung des Problems sehen sowohl die behandelnden Ärzte als auch Minister Lucha nur in einer Gesetzesänderung. Es geht ihnen um den Paragrafen 64 des Strafgesetzbuches. Er regelt, wann Straftäter zunächst einen Entzug machen können. Kritiker monieren mehrere Probleme. Das Gesetz definiere nicht genau genug, wann eine Sucht vorliege. Viele Straffällige konsumierten zwar Alkohol und Drogen, das sei aber eher Teil ihres Lebensstils als tatsächliche Sucht. Bisher können Straftäter die Kliniken verlassen, wenn sie eine Therapie erfolgreich absolviert haben – auch wenn die Strafe nicht verbüßt ist. Gerade Mehrfachtäter haben aber normalerweise kaum Chancen auf eine frühzeitige Haftentlassung. Deshalb versuchten besonders solche Kriminelle, sich in den Entzug zu „tricksen“.
Ändern müsste dieses Gesetz der Bund. Mittlerweile wurde dazu eine Arbeitsgruppe der Bundesländer gegründet, getagt hat sie allerdings noch nicht. Derweil bleiben die Platzprobleme ein akutes Problem. Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt: Wer zum Entzug muss, hat Anspruch auf eine „unverzügliche“Einweisung. „Derzeit ist es in BadenWürttemberg jedoch möglich, dass Verurteilte, die im Strafvollzug als sogenannte, Organisationshäftlinge untergebracht sind, mehrere Monate auf einen Unterbringungsplatz im Maßregelvollzug zu warten haben. Das kann in letzter Konsequenz auch dazu führen, dass Unterzubringende durch gerichtliche Entscheidung freizulassen sind, wenn keine unverzügliche Überführung in den Maßregelvollzug erfolgen konnte. Auf diese drängende Problematik, die aber, wie gesagt, nicht in unsere Zuständigkeit fällt, haben wir das Sozialministerium mehrfach hingewiesen“, sagt ein Sprecher von Justizminister Guido Wolf (CDU). Tatsächlich bestätigte das Oberlandesgericht Karlsruhe bereits im Juni 2019 ein Urteil des Landgerichts Offenburg: Demnach musste ein Verurteilter freigelassen werden, weil er keinen Therapieplatz bekam.