75 Jahre Hiroshima
Am 6. August 1945 löschte eine US-Atombombe die japanische Stadt Hiroshima aus – Die mahnenden Stimmen der Überlebenden werden immer leiser
Der Atombombenabwurf wirkt bis heute nach
TOKIO - Auf einmal ist es still. In der flirrenden Augusthitze zirpen Zikaden. Schulkinder, die eben noch kreischend aus dem Bus kletterten, verharren in Ehrfurcht und Disziplin. Über die auffällige Brücke, die dem Piloten des amerikanischen Atombombers vor 75 Jahren als Orientierung diente, marschieren sie schweigend auf die von zwei Flussarmen umschlossene Insel.
Am 6. August 1945 um 8.13 erschien am Himmel der amerikanische Bomber „Enola Gay“, zwei Minuten später erreichte er das angepeilte Ziel im Zentrum von Hiroshima. In 9450 Metern wird der Sprengkörper ausgeklinkt, in 580 Metern erfolgt die Detonation. Augenzeugen beschreiben den Moment „als würde die Sonne zur Erde fallen“. Die gewaltige Druckwelle schießt in Sekundenschnelle in alle Richtungen, Tausende Menschen sterben unter Höllenqualen.
Das einstige Epizentrum ist heute ein Friedenspark und wer ihn betritt, kämpft mit Emotionen, erlebt eine fast schon überwältigende Spannung zwischen Trauer und Hoffnung. Der dumpfe Klang der Bronzeglocke, die regelmäßig zur Erinnerung an die Toten geschlagen wird, der süßliche Geruch von Weihrauch, das gelb-weiße Chrysanthemen-Meer mahnen an die erste nukleare Katastrophe der Weltgeschichte.
Die Schüler drapieren am Kinder-Denkmal sorgfältig selbstgebastelte Ketten mit Papierkranichen. Dieses berührende Monument erinnert an den Lebenskampf der kleinen Sadako Sasaki, die zwei Jahre alt war, als die Bombe auf Hiroshima fiel. 1000 Kraniche wollte das danach an Leukämie erkrankte Mädchen falten, in Japan ein Symbol für Gesundheit und langes Leben. Sadako starb bei Nummer 663 mit 12 Jahren. Menschen aus dem ganzen Land stellten die restlichen Figuren fertig. Daraus ist in Japans Schulen eine Bewegung entstanden, die auch 75 Jahre später selbst von den coolsten Kids ohne Murren mitgemacht wird.
An der wichtigsten Gedenkstätte‚ dem Kenotaph des bekannten japanischen Architekten Kenzo Tange, verneigen sich die Mädchen und Jungen und falten die Hände zum Gebet. Vor diesem symbolischen Grabmal mit dem weltberühmten Satteldach lodert die ewige Flamme, die so lange brennen soll, bis die letzte Atomwaffe auf der Welt beseitigt ist. Am Turm für die Seelen der Opfer steht als Versprechen geschrieben. „Ruhet in Frieden. Dieser Fehler wird sich nie wiederholen.“
Hiroshi Harada war damals knapp sechs Jahre alt und allein auf der panischen Flucht vor der Feuerwelle in Hiroshima, als eine Frau versuchte, sein Bein zu fassen. Sie bettelte um Wasser. Von dem Arm, der versuchte, ihn zu packen, fiel ein blutiges Stück Fleisch. „Aber ich hatte keine Wahl, ich musste den Flammen entkommen.“Seine Beine versanken immer wieder in Leichen. „Mein Fuß glitt tief in einen Körper, es war grausam und schwer, ihn wieder herauszuziehen“, erinnert sich der heute 80-Jährige.
Diese schrecklichen Erinnerungen der Überlebenden teilen noch immer viele, auch wenn es von Jahr zu Jahr weniger werden. Vor den höllischen Feuerbrünsten lief auch der 15-jährige Shigeo Ito um sein Leben. Als eine Frau ihn anflehte, ihren Sohn unter den Trümmern eines Hauses zu retten, rannte er weiter, weil die Flammen schon die Brücke erreicht hatten, die er überqueren musste. „Ich habe mich lange so sehr geschämt, wenn ich die Brücke gesehen habe“, sagt der jetzt 89-Jährige, der den Schulkindern im Friedenspark schildert, was diese Atombombe körperlich und emotional aus Menschen gemacht hat. Dabei spricht er mit leiser Stimme über Schuld, Sühne und Mitleid.
Wer sich daran erinnern muss, war damals ein Kind. „Little Boy“nannte die Besatzung des US-Bombers Enola Gay die erste über Menschen gezündete Atombombe der Welt, die an dieser Stelle eine ganze Stadt in Schutt und Asche legte. Japan war damit in die Knie gezwungen, der Zweite Weltkrieg beendet. 70 000 bis 90 000 Menschen waren sofort tot. Durch die Verstrahlung und die Folgen der Brandverletzungen kamen 140 000 Menschen ums Leben. Bis heute sterben Frauen und Männer an Krebs in Folge von radioaktiver Verseuchung.
Wer diese Hölle überlebte, hat immer noch Probleme, die Erlebnisse zu verkraften. Und es gibt dafür zwei sehr verschiedene Methoden: sich nicht darin erinnern wollen oder gegen das Vergessen ankämpfen. Viele der Überlebenden von Hiroshima vermeiden es, über ihr Leiden zu sprechen. Selbst gegenüber den eigenen Kindern verschweigen sie, was sie sehen und erleben mussten. Für die einen ist dieser Blick zurück entsetzlich, andere fürchten, dass sie und ihre Nachfahren diskriminiert werden. Wer aus einer solchen Opferfamilie stammt, gilt in Japan noch heute als „belastet“, manche sagen auch „unrein“.
Verlobungen sind daran gescheitert, selbst Ehen. Das Verdrängen gilt für Namenlose wie Prominente. Issey Miyake etwa spricht nie über diesen Tag, nie über seine Erinnerungen an jenen Morgen am 6. August 1945. Wer den als Marke weltbekannten, als Menschen aber scheuen Modeschöpfer in Tokio überhaupt treffen darf, wird von seinem Umfeld nachdrücklich aufgefordert, unter keinen Umständen nach diesem Tag zu fragen. Als gäbe es ihn nicht für Issey Miyake. Er hat ihn aus seinem Leben verbannt.
Offiziell wehrt sich Hiroshima gegen das Vergessen. „Die Zahl der Zeitzeugen wird immer kleiner und ihre Stimmen immer dünner“, mahnt Harada. „Aber Hiroshima muss seine Botschaft in die Welt tragen, es darf nicht wieder geschehen.“Es ist ein Kampf, der schwer zu gewinnen ist. Das Durchschnittsalter der Hibakusha – der anerkannten Opfer der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki – überschreitet zum ersten Mal 85 Jahre. Es gibt kaum noch 5000 Überlebende in Hiroshima. Es werden immer weniger und ihre mahnenden Stimmen immer leiser.
75 Jahre nach dem Atombombenabwurf glauben mehr als drei Viertel von ihnen nicht mehr an die Macht von Erinnerung und Mahnung. Dabei hätten sie dieses Datum gern genutzt, um das Gedenken an ihr Schicksal wachzuhalten und vor den Schrecken der Atombombe aus eigenem Erleben zu warnen. So brutal es klingt, die Corona-Pandemie hat ihnen die vielleicht letzte Chance ihres Lebens auf eine solche Bühne genommen. Die meisten Gedenkveranstaltungen mussten in diesem Jahr aus Angst vor der weiteren Verbreitung der Pandemie abgesagt oder erheblich reduziert werden. In Japan gilt derzeit ein rigides Einreiseverbot für 130 Staaten, Versammlungen im Land sollen vermieden werden.
Knapp zwei Drittel einer jüngsten Umfrage unter HiroshimaÜberlebenden beklagt, dass der Ausbruch von Corona sie in diesem Jahr daran hindert, ihre Erfahrungen an die jungen Leute weiterzugeben. Zu ihnen gehört Hiroyuki Kinoshia:„Ich hatte mich zum ersten Mal darauf vorbereitet, in einer Schule über das Elend und die Gefahr nuklearer Waffen zu sprechen. Aber dann kam die Absage des Rektors, die Pandemie sei zu gefährlich für seine Kinder.“Das hat den 79-Jährigen sehr enttäuscht, weil er nicht weiß, wann und ob es eine solche Gelegenheit für ihn je wieder geben wird.