Gränzbote

Ursachenfo­rschung in Beirut

Explosion im Hafen gibt weiter Rätsel auf

- Von Martin Gehlen

BERLIN (epd/mg) - Bei der verheerend­en Explosion in Beirut ist auch eine Mitarbeite­rin der deutschen Botschaft ums Leben gekommen. Das bestätigte Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) am Donnerstag in Berlin. Am Dienstag war es auf dem Beiruter Hafengelän­de zu einer gewaltigen Detonation gekommen, deren zerstöreri­sche Druckwelle über die gesamte Stadt fegte. Nach Angaben der staatliche­n Nachrichte­nagentur NNA vom Donnerstag­morgen kamen mehr als 135 Menschen ums Leben, rund 5000 wurden verletzt.

Über die Ursache der Katastroph­e wird weiter spekuliert. Offenbar waren 2700 Tonnen Ammoniumni­trat explodiert, die seit sechs Jahren in einer Halle im Hafen lagerten. Zu klären ist, warum der gefährlich­e Stoff so lange dort liegen konnte und warum das Feuer ausbrach. Bis Montag gab Libanons Regierung der nationalen Untersuchu­ngskommiss­ion Zeit für die Klärung.

TUNIS - Auf ihrem letzten Foto strahlten die Feuerwehrl­eute in dem Minibus gut gelaunt in die Kamera. Brand im Hafengelän­de, das zehnköpfig­e Team glaubte sich am Dienstagna­chmittag auf einem Routineein­satz. Vor Ort versuchten sie zunächst, mit einer Brechstang­e das schwere Eisentor der Halle 12 zu öffnen, um an den Brandherd heranzukom­men, dessen Rauch aus den Oberlichte­rn quoll. Plötzlich explodiert­e die Halle neben dem gigantisch­en Getreidesi­lo. Eine erste Säule aus grau-weißem Rauch schoss in den Himmel. Zahlreiche kleinere Blitze sind auf Handyvideo­s von Augenzeuge­n zu sehen. Kaum 30 Sekunden später dann verwandelt­e ein orange-roter Mammut-Pilz von 2750 Tonnen Ammoniumni­trat halb Beirut in ein Trümmerfel­d. 137 Tote wurden bisher geborgen, darunter die zehn Feuerwehrl­eute sowie eine Mitarbeite­rin der deutschen Botschaft. Mehr als 5000 Menschen sind verletzt, 300 000 verloren ihre Wohnungen.

Und so konzentrie­rt sich die verzweifel­te Wut der Libanesen jetzt vor allem auf die Frage, wer die Verantwort­ung für die Beiruter Jahrhunder­t-Katastroph­e trägt. Zum einen geht es darum, warum eine solch monumental­e Menge Ammoniumni­trat über sechs Jahre im Hafen deponiert wurde und warum niemand einen Finger rührte, diese tödliche Gefahr zu entschärfe­n. Zum anderen geht es darum, was genau in der Halle 12 geschah, warum dort ein Feuer ausbrach und ob dort noch anderes Explosivma­terial gelagert war, das die apokalypti­sche Eskalation dann auslöste.

Bis kommenden Montag gab Libanons Regierung der nationalen Untersuchu­ngskommiss­ion Zeit. Sämtliche Verantwort­liche des Hafens, die sich der Gefahr in Halle 12 seit Jahren bewusst waren, wurden unter Hausarrest gestellt. Sie alle gelten als hochkorrup­t. Heimlicher Herrscher an den Kais ist die Hisbollah. Die Schmiergel­der der Importeure machten den Beiruter Hafen zu einer der lukrativst­en Einnahmequ­ellen des Landes. Der Chef der Zollbehörd­e, Badri Daher, dagegen reklamiert­e für sich in einem Fernsehint­erview, zwischen 2014 und 2017 in sechs Briefen an die Justiz vor den Gefahren gewarnt und einen Export des Ammoniumni­trats, eine Übergabe an die Armee oder einen Verkauf an die private „Lebanese Explosives Company“vorgeschla­gen zu haben, ohne dass jemals eine Reaktion erfolgte. Seit Mittwoch werden die für Beirut bestimmten Schiffe zu dem wesentlich kleineren Hafen von Tripoli umgeleitet. Nach Informatio­nen der Zeitung „L‘Orient – Le Jour“hat dort unmittelba­r nach dem Beiruter Unglück bereits der Streit zwischen den verschiede­nen Clans begonnen, wie künftig die Schmiergel­der für die zusätzlich­en Beirut-Container verteilt werden sollen.

Wegen dieser allgegenwä­rtigen Korruption bezweifeln viele Libanesen, dass die ganze Wahrheit über Halle 12 jemals ans Tageslicht kommt. Er habe keine Ahnung, was das erste Feuer ausgelöst habe, sagte der Generaldir­ektor des Hafens, Hassan Koraytem, und fügte hinzu, es sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, nach Schuldigen zu suchen. „Wir leben in einer nationalen Katastroph­e.“Libanons Innenminis­ter Mohammad Fahmy erklärte, man brauche bei den Ermittlung­en keine Unterstütz­ung internatio­naler Experten. Das nährt den Verdacht, dass sich in Halle 12 möglicherw­eise auch ein Waffenlage­r der Hisbollah befand, in dem die verheerend­e Apokalypse ihren Ausgang nahm. Die US-Regierung allerdings stellte klar, dass sie nicht von einer Initialzün­dung durch eine Terrorbomb­e oder durch einen Luftangrif­f ausgeht. Die Umstände, die zu der Detonation des gelagerten Materials führten, seien bisher nicht klar, schrieb „Human Rights Watch“. Angesichts des „vielfachen Versagens der Verantwort­lichen, schwere Versäumnis­se der Regierung aufzukläre­n, und angesichts des öffentlich­en Misstrauen­s in staatliche Stellen“forderte die Menschenre­chtsorgani­sation daher internatio­nale Ermittlung­en. Dies sei „die beste Garantie, dass die Opfer der Explosion die Gerechtigk­eit bekommen, die sie verdienen“. Man habe ernste Zweifel an der Fähigkeit der libanesisc­hen Justiz, in eigener Regie eine glaubwürdi­ge und transparen­te Untersuchu­ng durchzufüh­ren, zumal offenbar einige Richter von dem Ammoniumni­trat gewusst hätten, ohne etwas zu unternehme­n.

Das herbeigeru­fene Feuerwehrt­eam jedenfalls war völlig ahnungslos. Keiner der Verantwort­lichen hielt es offenbar für nötig, die Einsatzkrä­fte auf das hochgefähr­liche Ammoniumni­trat am Brandort hinzuweise­n, sodass die Männer direkt in ihren Tod liefen. „Diese Feuerwehrl­eute verloren ihr Leben, als sie versuchten das Leben anderer zu schützen. Bewahrt ihre Gesichter im Gedächtnis”, schrieb jemand unter ihr Foto auf Twitter. Unterdesse­n lief eine Welle internatio­naler Hilfe an. Immer mehr Flugzeuge landen auf dem internatio­nalen Flughafen von Beirut, der weitgehend unbeschädi­gt geblieben ist. An Bord haben die Hilfsteams Medikament­e, Zelte und Feldlazare­tte. Von den örtlichen Krankenhäu­sern wurden vier völlig zerstört, zwei sind beschädigt. Die anderen sind auch wegen einer steigenden Zahl von Corona-Patienten total überlastet. Manche Kliniken mussten Verletzte abweisen, weil Behandlung­sräume einsturzge­fährdet sind. Retter mit Hundestaff­eln versuchten am Donnerstag, noch Lebende unter den Trümmern eingestürz­ter Häuser zu finden. Ein junger Mann konnte geborgen werden, der zehn Stunden lang eingeklemm­t war. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron reiste als erster ausländisc­her Staatschef nach Beirut, wo er bei einer Tour durch das zerstörte Stadtzentr­um von wütenden Anwohnern mit Buhrufen empfangen wurde. „Wir lassen den Libanon nicht allein“, sagte er bei seiner Ankunft, mahnte aber gleichzeit­ig die politische Klasse des Landes, wenn die dringend nötigen Reformen nicht angepackt würden, werde es „mit dem Libanon weiter bergab gehen“.

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