Gewalt und Fälschungsvorwürfe in Weißrussland
Lukaschenko nach Hochrechnhungen Gewinner von Präsidentschaftswahl – Gegner berichten von Manipulationen
MOSKAU - Unter dem Eindruck beispielloser Fälschungsvorwürfe und massiver Polizeigewalt haben die Menschen in Weißrussland am Sonntag einen Präsidenten gewählt. Zwar erwartet Staatschef Alexander Lukaschenko, der die ehemalige Sowjetrepublik seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit harter Hand regiert, einen hohen Sieg. Vor den Wahllokalen bildeten sich am Sonntag aber lange Schlangen wie noch nie. Nach ersten Hochrechnungen erreichte der Amtsinhaber eine Zustimmung von 79,7 Prozent. Seine wichtigste Rivalin Swetlana Tichanowskaja kam demnach auf 6,8 Prozent.
Ein Wähler, der ein weißes Armbändchen trug, das Erkennungszeichen der Opposition, bekam einen Wahlzettel ausgehändigt, auf dem ein Kästchen mit einem Nadelstich markiert war. „Wenn jemand auf so einem Blatt sein Kreuz macht“, warnt der Wahlbeobachter Sergei R. über den Messengerdienst Telegram, „erklären sie seine Stimme für ungültig.“Drei der vier Kandidaten, die gegen Staatschef Alexander Lukaschenko angetreten waren, gelten als Statisten. Aber die Kandidatin Swetlana Tichnowskaja, die anstelle ihres verhafteten Mannes Sergei kandidierte, mobilisierte in ihrem Wahlkampf wiederholt Zehntausende Weißrussen. Auch vor den Wahllokalen bildeten sich am Wahlsonntag Hunderte Meter lange Schlangen. Die OnlinePlattform
„Stimme“rief die Wähler auf, ihr Fotos der ausgefüllten Stimmzettel zu senden, um eine parallele Auszählung zu organisieren. Eine ihrer Internetseiten wurden von Hackern gekapert. Das Oppositionsportal Chartija 97 appellierte an die Weißrussen, sich am Abend vor den Wahllokalen zu versammeln, um die Auszählung zu kontrollieren. Das vorläufige Wahlergebnis wird am Montagnachmittag erwartet – eine erste Hochrechnung am Sonntagabend sah den Amtsinhaber bei 79,7 Prozent. Eine Zahl, die die Proteste der Vortage weiter befeuern könnte – und die der Festnahmen. Schon am Wahlsonntag meldete die Opposition die Festnahme von acht Tichanowskaja-Mitarbeitern und 28 Wahlbeobachtern.
Samstagnacht nahm die Polizei den Koordinator der etwa 4000 unabhängigen Wahlbeobachter fest, die die 715 Wahllokale in Minsk kontrollieren. Wenig später löschten Unbekannte fast sämtliche Chats der Gruppen im Messengerdienst Telegram – einen wichtigen Kommunikationskanal der Oppositionellen. Die Mitglieder eines der letzten funktionierenden Chats berichteten von Bereitschaftspolizisten, die weitere Beobachter in einen Polizeibus schleppten oder von Kleinbussen, in denen Mehrfachwähler unterwegs seien.
„Wir befürchten, sie schalten in ganz Belarus das Internet ab“, sagte die Aktivistin Xenia. „Vielleicht sogar den Strom.“Die Wahlbehörden hatten schon bei den fünftägigen Vorwahlen
keinen Hehl aus ihrer Taktik gemacht: möglichst wenig Öffentlichkeit. Unabhängige Wahlbeobachter wurden meist auf die Straße gesetzt. Und nach Angaben des TV-Kanals Belsat standen die Leute noch am späten Nachmittag Schlange vor Minsker Wahllokalen, in denen angeblich bereits fast 100 Prozent abgestimmt hatten. Die Wahlbeobachtungsgruppe „Ehrliche Leute“veröffentlichte eine Audioaufnahme, in dem die Besatzung eines Wahllokals im Minsker Wahllokal 48 die Bekanntgabe des Endergebnisses probt. „Ihr kennt eure Zahlen“, erklärt die Vorsitzende, „lernt sie auswendig so gut es geht“. Danach sollte Tichanowskaja 102, Lukaschenko aber 952 Stimmen erhalten. Die Vorsitzende warnte auch vor Menschenaufläufen und versprach im Notfall den Einsatz von Sondereinheiten der Polizei. Auch auf der Gegenseite herrschte Nervosität: Veronika Zepkalo, eine der engsten Mitstreiterinnen Tichanowkajas, flüchtete gestern nach Moskau.
Die Oppositionsführerin selbst sagte nach ihrer Stimmabgabe, sie hoffe auf faire Wahlen. Wenn das Volk wirklich für Lukaschenko stimme, werde sie das akzeptieren. Lukaschenko dagegen nannte Tichanowskaja eine Versagerin und beschimpfte ihre Anhänger: „Sie sind es gar nicht wert, gegen sie Repressalien einzusetzen.“Kurz nach Ende Schließung der Wahllokale ist es erneut zu Festnahmen gekommen.