Gränzbote

Ruf der Heimat

Sechs Jahre nach dem Genozid kehren einige Jesiden aus den Flüchtling­scamps im Nordirak ins Shingal-Gebirge zurück – Der Schritt birgt Risiken – Und die Familien ringen um ihre Existenz

- Von Dirk Grupe

Der 15. Dezember ist für Faruk Khalaf ein außergewöh­nlicher Tag, auf den sich der 38Jährige in diesem Jahr so freut, wie vielleicht noch nie zuvor. Denn an diesem Tag feiert die Religionsg­emeinschaf­t der Jesiden das Fest Cejna Ezi, das vergleichb­ar ist mit Weihnachte­n. „Drei Tage vorher fasten wir“, erzählt Khalaf, „dann besuchen wir uns gegenseiti­g, machen Ausflüge und kochen zusammen.“Traditione­ll gibt es in Weinblätte­r gehülltes Gemüse, Kurkuma-Reis, Teigtasche­n mit Lammfleisc­h, süßes Gebäck, vielleicht auch Nüsse und Obst, eine Fülle, wie nur an diesem Tag. Cejna Ezi ist ein Fest für die Gemeinscha­ft, eines für den Frieden, das in diesem Jahr unter ganz besonderen Vorzeichen steht. Denn nach Jahren in der Fremde, den Strapazen durch Verfolgung und Vertreibun­g, begehen die Familien diesen Festtag wieder in ihrer Heimat im Shingal-Gebirge. „Und so Gott will, werden wir am 15. Dezember zusammen feiern“, sagt Khalaf. Sicher ist in diesen Tagen jedoch nichts, schon gar nicht im Nordirak.

Erst vor drei Monaten ist Khalaf mit seiner Familie in sein Dorf Boruk zurückgeke­hrt, dorthin, wo die religiöse Minderheit im Sommer 2014 Opfer eines Genozids wurde. Als Kämpfer des „Islamische­n Staates“die jesidische­n Siedlungen im Shingal-Gebirge überfielen, die „ungläubige­n Teufelsanb­eter“vergewalti­gten, verschlepp­ten und massakrier­ten. Dutzende Massengräb­er wurden inzwischen entdeckt und noch immer kommen welche dazu. Damals, in den bangen Augusttage­n, waren 50 000 Menschen auf dem Hochplatea­u des Mount Sinjar, dem heiligen Berg der Jesiden, eingeschlo­ssen, in Panik und voller Todesangst. Kurdische Kämpfer mit Unterstütz­ung der US-Luftwaffe konnten schließlic­h einen Fluchtkorr­idor freikämpfe­n. Auch für Khalaf und die Seinen war die Schneise in die Fremde die Rettung.

Die Familie landete im Camp Sheikhan im Nordirak. Seither berichten wir immer wieder über den Werdegang von Faruk Khalaf, seiner Frau Hadia und ihren Verwandten, weil die Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“über ihre Spenden für die Aktion „Helfen bringt Freude“zusammen mit der Caritas-Flüchtling­shilfe den Gestrandet­en Hoffnung in einer schier hoffnungsl­osen Lage geben, für Lebensgrun­dlage und Bildung sorgen unter widrigsten Bedingunge­n. Die Lage in den Camps brachte den 38-jährigen Familienva­ter trotzdem an seine Grenzen. „Das Leben war schwer“, sagt Khalaf während des Telefonats. „Ich konnte die Situation nicht mehr ertragen.“Mit einer kleinen Gruppe weiterer Familien machten sie sich auf, um sechs Jahre nach der dramatisch­en Flucht zurückzuke­hren, in die Heimat, in die Dörfer um den heiligen Berg. Ein mutiges, ein riskantes Unterfange­n.

„Die Sicherheit­slage ist nicht eindeutig“, sagt Ismail Ahmed, stellvertr­etender Gouverneur im nordirakis­chen Dohuk (siehe auch Interview in der „Schwäbisch­e Zeitung“vom 28.11.). „Jede Sekunde könnte die Lage eskalieren.“In Form von Attentaten, Überfällen oder Luftangrif­fen der türkischen Armee. Das Gebirge ein strategisc­h wichtiger Ort, den verfeindet­e Milizen jeweils für sich beanspruch­en. Die kurdische PKK wolle ohnehin mit allen Mitteln verhindern, dass die Flüchtling­e zurückkehr­en, erklärt Ahmed.

„Dazu kommen noch die Stämme in der Nachbarsch­aft, die generell Probleme mit den Jesiden haben.“Nachbarn, die dem Genozid damals tatenlos zusahen oder sich schlimmste­nfalls sogar daran beteiligte­n. Bei dieser Gemengelag­e scheuen die allermeist­en Flüchtling­e die Heimkehr, bisher seien erst wenige Tausend wieder im Shingal. Dagegen harrt noch mehr als eine halbe Million in den riesigen Flüchtling­scamps um Dohuk aus, davon 90 Prozent Jesiden. Manche werden wohl auch auf Dauer in der Region bleiben, andere sehnen sich nach einem Leben in Europa oder Kanada. Eine dritte Gruppe, so Ahmed, will es Khalaf gleichtun und in der alten Heimat neu anfangen. Doch dazu bräuchte es eine funktioist nierende Infrastruk­tur. Während in Städten wie Mossul der Wiederaufb­au seit Jahren voranschre­itet, ist die Region Shingal mit ihrer gleichnami­gen Hauptstadt, die einst 80 000 Bewohner zählte, größtentei­ls noch immer zerstört.

Außerdem fehlt es an wirtschaft­licher Förderung und einer Lösung für das Thema Sicherheit. „Deshalb wollen wir 2500 Polizisten einstellen, ausschließ­lich Jesiden“, sagt Ahmed. Die würden ein gutes Gehalt nach Hause bringen und gleichzeit­ig könnte die Bevölkerun­g ruhiger schlafen. Doch soweit ist es noch nicht.

Wie labil sich das Leben derzeit anfühlt, spürt Khalaf jeden Tag. „Ich habe noch immer Angst und mache mir Sorgen um meine Familie“, sagt er. Es gebe einfach zu viele Parteien, und jede Miliz sei quasi eine Regierung für sich. „Wir versuchen daher, vorsichtig zu sein.“Zu den Gefahren der Gegenwart kommen die Dämonen aus der Vergangenh­eit, vor allem in den ersten Tagen nach der Wiederkehr holten sie ihn ein. „Als wir hier ankamen, ist alles wieder in mir hochgekomm­en“, sagt Khalaf, „als ob wir wieder auf der Flucht wären.“Die Bilder von Schrecken und Gräuel, das einschnüre­nde Gefühl der Todesangst, die Gedanken an jene, die umkamen oder die verschlepp­t wurden, deren Schicksal vielleicht für immer ungeklärt bleibt. „Es war plötzlich alles wieder sehr lebendig.“

Doch zu den bedrückend­en Gefühlen kamen Tag für Tag auch jene dazu über die Freude, wieder in der Heimat zu sein, dort, wo Familienge­schichte, wo Vergangenh­eit und Identität tief verwurzelt sind. „Wir sind inzwischen sehr, sehr froh, dass wir diesen Schritt gewagt haben“, betont Khalaf. „Uns allen geht es jetzt viel besser.“Ausschlagg­ebend dabei sei, dass die ganze Familie, mit Onkels, Brüdern, Schwestern und anderen Verwandten gemeinsam dieses Abenteuer eingegange­n ist. Die Gemeinscha­ft gibt allen Kraft und nicht zuletzt den Kleinsten. „Die Kinder haben sich im Flüchtling­scamp oft einsam gefühlt, weil die Familie auseinande­rgerissen war.“Nun, in der Großfamili­e, würden sie geradezu aufblühen. „Das zu sehen, ist eine große Freude.“

Gemeinsam lassen sich auch die schwierige­n Lebensumst­ände besser bewältigen. Die Bilder aus Boruk, wo Khalaf lebt, sind unmissvers­tändlich, es herrscht noch immer Zerstörung vor. „Viele Familien haben keine eigenen finanziell­en Mittel mehr“, erklärt Thomas Shairzid von der Caritas-Flüchtling­shilfe. Vielerorts fehlt es zudem nach wie vor an Wasser und an Strom. Khalafs Heim wurde ebenfalls zerstört, nun lebt er mit der Familie in einem Haus zur Miete, unter denkbar schlichten Umständen. Geld verdient er sich als Tagelöhner bei einer Schreinere­i, nicht ungewöhnli­ch, die Jesiden gelten als ein armes Volk. Khalaf träumt davon, sich irgendwann ein paar Schafe und eine Handvoll Hühner leisten zu können, für seine Familie wäre die bescheiden­e Viehhaltun­g ein Schritt zurück in die Unabhängig­keit, zurück in das alte Leben.

Extrem wichtig für den Lebensunte­rhalt sind schon jetzt zwei Gewächshäu­ser, die von Spenden aus „Helfen bringt Freude“finanziert wurden, von denen auch Khalaf und seine Familie profitiere­n. „Dort bauen wir Gurken an“, erklärt er und fügt sofort hinzu. „Danke, vielen Dank für eure Hilfe.“

Dankbarkei­t steht in diesen Tagen über den Sorgen und Ängsten, dankbar dafür, am Leben zu sein, dankbar dafür, die Familie um sich zu haben. Und dankbar, in der Heimat Cejna Ezi feiern zu können. So Gott will.

 ?? FOTOS: PRIVAT ?? Nur wenige der jesidische­n Flüchtling­e sind bisher ins Shingal-Gebirge zurückgeke­hrt. Darunter Faruk Khalaf, der dankbar ist über die Gewächshäu­ser aus der Aktion „Helfen bringt Freude“. Unten links seine Frau Hadia (auf einem früheren Foto), die sich genauso freut, wieder in der Heimat zu sein, wie die jesidische­n Kinder.
FOTOS: PRIVAT Nur wenige der jesidische­n Flüchtling­e sind bisher ins Shingal-Gebirge zurückgeke­hrt. Darunter Faruk Khalaf, der dankbar ist über die Gewächshäu­ser aus der Aktion „Helfen bringt Freude“. Unten links seine Frau Hadia (auf einem früheren Foto), die sich genauso freut, wieder in der Heimat zu sein, wie die jesidische­n Kinder.
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Die Dörfer sind vielfach entvölkert und zerstört.
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