Mit eisernem Lächeln
Vor einem Jahr wurde Ursula von der Leyen Präsidentin der Europäischen Kommission – Ihre großen Ambitionen musste sie mit der Pandemie vereinbaren
BRÜSSEL - Was für ein Einstiegsjahr. Kaum hatte sich Ursula von der Leyen mit ihrer neuen Arbeitsumgebung vertraut gemacht und ihre Mitarbeiter kennengelernt, kam Corona. Doch die 62-Jährige hat in den vergangenen Monaten gezeigt, dass sie sich an schwierige Situationen anpassen kann. Sie schöpft die medialen Möglichkeiten voll aus und sendet auf allen sozialen Kanälen.
„Ask the president – fragen Sie die Präsidentin“heißt das Format, in dem Ursula von der Leyen in unregelmäßigen Abständen Bürgerfragen beantwortet und wo ihr schauspielerisches Talent besonders gut zur Geltung kommt. Denn es ist nicht leicht, minutenlang mütterlich-besorgt, freundlich-zuversichtlich oder interessiert-anteilnehmend in die Kamera zu schauen und ganz spontan zu wirken, während auf dem geteilten Bildschirm ein Stelios leicht schräg und etwas unscharf in die Handykamera fragt, wann wir denn eine europäische Armee bekommen und Marco sich um die LGTB-Rechte in Polen und Ungarn sorgt.
Dimitri interessiert sich für die Zukunft des grenzfreien Europas, schickt dann aber eine persönliche Frage hinterher, die es der Präsidentin ermöglicht, sich von der menschlichen Seite zu zeigen. Er möchte wissen, welche Musik sie gerne hört, und die Antwort kann man gut und gern auf ihren politischen Stil übertragen: Für jeden ist etwas dabei. Leonhard Cohen für die nostalgischen Frührentner, Edith Piaf für ihre Fans in Frankreich, dazu eine Prise Tote Hosen für die Fortysomethings, Katie Melua für die Enkelgeneration und schließlich, alles überspannend, klassische Musik – das geht immer.
Ursula von der Leyens Politikstil war schon immer verbindlich. Als Arbeits- und als Verteidigungsministerin pflegte sie das Image der Kümmerin. Doch das Publikum, dem sie gefallen wollte, hatte viel klarere Konturen als in ihrer jetzigen Rolle. Vom jungen Forstwirtschaftler in Spanien über den bayerischen Landwirt bis zur polnischen Frauenrechtlerin reicht jetzt das Spektrum. Ihnen allen vermittelt die zierliche Frau im zeitlosen Bolerojäckchen das Gefühl, dass ihre Anliegen in Brüssel gehört werden.
Mit dieser Technik – eine Projektionsfläche für eine sehr breite Palette von durchaus auch unvereinbaren Politikzielen zu sein – hat von der Leyen eine Mehrheit im Europaparlament für sich gewinnen können. Und das, obwohl sie durch die Hintertür, ohne Berücksichtigung der Spitzenkandidaten im Europawahlkampf, von den Regierungschefs präsentiert wurde. Sie umwarb die Grünen mit einer sehr ehrgeizigen Klimaagenda, versprach den Liberalen eine digitale Modernisierung Europas und verwies gegenüber den Linken auf ihre sozialpolitische Bilanz als deutsche Arbeitsministerin. Die Konservativen bekamen vergleichsweise wenig. Sie konnten sich damit trösten, dass eine Frau mit CDU-Parteibuch auf dem Chefsessel Platz nehmen würde.
Victor Orban, das ungarische enfant terrible in der konservativen Parteienfamilie, unterstützte die Kandidatur der Deutschen. Gelegentlich dürfte er sich fragen, ob das eine gute Idee war. Denn beim Streitthema Rechtsstaatlichkeit wird die 62-Jährige ungewohnt deutlich. „Es geht hier um Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip, die das europäische Budget gefährden – und nur um diese. Das ist angemessen, verhältnismäßig und notwendig“, sagte die Kommissionspräsidentin vergangenen Mittwoch im Europaparlament. Es sei „sehr schwer vorstellbar, dass irgendjemand in Europa irgendetwas dagegen haben könnte.“Wer Zweifel habe, dem stehe der Rechtsweg offen. Das sei der übliche Weg – „und nicht zu Lasten von Millionen Europäern, die dringend auf unsere Hilfe warten.“Das waren überraschend klare Worte von einer Kommissionspräsidentin, die bislang fast alle Meinungsverschiedenheiten wegzulächeln versucht hatte.
Möglich, dass ihr Vize Frans Timmermans für den stärker konfrontativen Kurs mit verantwortlich ist. Der Niederländer war in der Europawahl als Spitzenkandidat für die Sozialdemokraten angetreten und hatte im Europaparlament keine Mehrheit für seine Bewerbung um das Amt des Kommissionspräsidenten zusammenbekommen. In der Agrardebatte setzte er sich kürzlich klar von seiner Chefin ab, als er dafür plädierte, die Kommission solle die weichgespülte und wenig klimafreundliche Agrarreform stoppen und einen neuen Vorschlag unterbreiten. Von der Leyen unterstützte diese Forderung nicht und vermied es so, ihre Parteifreunde und die Bauernlobby gegen sich aufzubringen. Vielleicht hielt sie es zum Ausgleich für angebracht, in der Rechtsstaatsdebatte eine progressivere Haltung zu vertreten.
Verglichen mit ihrem Vorgänger und Parteifreund Jean-Claude Juncker verkörpert die in Brüssel geborene Politikerin einen völlig anderen Politikertypus: Juncker zeigte Ärger und Enttäuschung, wenn ihm die Regierungschefs wieder einmal nicht gefolgt waren. Er präsentierte sich oft nachlässig gekleidet, mit Zigarette in der einen und Weinglas in der anderen Hand. Ein vergleichbarer Auftritt von der Leyens wäre undenkbar. Sie steht makellos frisiert, tadellos gepflegt, schmuck- und schnörkellos, vor allem aber gleichmäßig lächelnd vor jeder Kamera und bewirbt Europas Zukunft wie ein neues, besonders schonend reinigendes Waschmittel.
Dieser Eindruck von Künstlichkeit wird dadurch verstärkt, dass die meisten persönlichen Begegnungen in den vergangenen Monaten durch Videobotschaften ersetzt werden mussten. Zehn von zwölf Monaten im neuen Job hat von der Leyen unter Corona-Bedingungen amtiert, ein großer Teil davon spielte sich im Homeoffice ab – gelegentlich bei ihrer Familie in Hannover, meist aber im Berlaymont-Gebäude in Brüssel. Die vor Corona von ihr getroffene Entscheidung, direkt neben den Büros im Berlaymont-Gebäude ihr persönliches Apartment einzurichten, dürfte das Gefühl, in einer künstlichen Blase zu leben, noch intensiviert haben. Doch dieser Zustand wird in ein paar Monaten zu Ende gehen. Dann kann die Präsidentin endlich durch die Straßen einer Stadt spazieren, die sie aus Kindertagen kennt.
Die Passanten, die sie dabei trifft, werden gravierendere Probleme haben als vor der Pandemie. Europas Wirtschaft hat starken Schaden genommen, ein möglicher harter Brexit und der Haushaltsstreit verschärfen die Situation zusätzlich. Mit lächelnden Plattitüden und hoffnungsfrohen Worten über Europas Zukunft werden sich diese Menschen nicht zufrieden geben.