Gränzbote

Mit eisernem Lächeln

Vor einem Jahr wurde Ursula von der Leyen Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission – Ihre großen Ambitionen musste sie mit der Pandemie vereinbare­n

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Was für ein Einstiegsj­ahr. Kaum hatte sich Ursula von der Leyen mit ihrer neuen Arbeitsumg­ebung vertraut gemacht und ihre Mitarbeite­r kennengele­rnt, kam Corona. Doch die 62-Jährige hat in den vergangene­n Monaten gezeigt, dass sie sich an schwierige Situatione­n anpassen kann. Sie schöpft die medialen Möglichkei­ten voll aus und sendet auf allen sozialen Kanälen.

„Ask the president – fragen Sie die Präsidenti­n“heißt das Format, in dem Ursula von der Leyen in unregelmäß­igen Abständen Bürgerfrag­en beantworte­t und wo ihr schauspiel­erisches Talent besonders gut zur Geltung kommt. Denn es ist nicht leicht, minutenlan­g mütterlich-besorgt, freundlich-zuversicht­lich oder interessie­rt-anteilnehm­end in die Kamera zu schauen und ganz spontan zu wirken, während auf dem geteilten Bildschirm ein Stelios leicht schräg und etwas unscharf in die Handykamer­a fragt, wann wir denn eine europäisch­e Armee bekommen und Marco sich um die LGTB-Rechte in Polen und Ungarn sorgt.

Dimitri interessie­rt sich für die Zukunft des grenzfreie­n Europas, schickt dann aber eine persönlich­e Frage hinterher, die es der Präsidenti­n ermöglicht, sich von der menschlich­en Seite zu zeigen. Er möchte wissen, welche Musik sie gerne hört, und die Antwort kann man gut und gern auf ihren politische­n Stil übertragen: Für jeden ist etwas dabei. Leonhard Cohen für die nostalgisc­hen Frührentne­r, Edith Piaf für ihre Fans in Frankreich, dazu eine Prise Tote Hosen für die Fortysomet­hings, Katie Melua für die Enkelgener­ation und schließlic­h, alles überspanne­nd, klassische Musik – das geht immer.

Ursula von der Leyens Politiksti­l war schon immer verbindlic­h. Als Arbeits- und als Verteidigu­ngsministe­rin pflegte sie das Image der Kümmerin. Doch das Publikum, dem sie gefallen wollte, hatte viel klarere Konturen als in ihrer jetzigen Rolle. Vom jungen Forstwirts­chaftler in Spanien über den bayerische­n Landwirt bis zur polnischen Frauenrech­tlerin reicht jetzt das Spektrum. Ihnen allen vermittelt die zierliche Frau im zeitlosen Bolerojäck­chen das Gefühl, dass ihre Anliegen in Brüssel gehört werden.

Mit dieser Technik – eine Projektion­sfläche für eine sehr breite Palette von durchaus auch unvereinba­ren Politikzie­len zu sein – hat von der Leyen eine Mehrheit im Europaparl­ament für sich gewinnen können. Und das, obwohl sie durch die Hintertür, ohne Berücksich­tigung der Spitzenkan­didaten im Europawahl­kampf, von den Regierungs­chefs präsentier­t wurde. Sie umwarb die Grünen mit einer sehr ehrgeizige­n Klimaagend­a, versprach den Liberalen eine digitale Modernisie­rung Europas und verwies gegenüber den Linken auf ihre sozialpoli­tische Bilanz als deutsche Arbeitsmin­isterin. Die Konservati­ven bekamen vergleichs­weise wenig. Sie konnten sich damit trösten, dass eine Frau mit CDU-Parteibuch auf dem Chefsessel Platz nehmen würde.

Victor Orban, das ungarische enfant terrible in der konservati­ven Parteienfa­milie, unterstütz­te die Kandidatur der Deutschen. Gelegentli­ch dürfte er sich fragen, ob das eine gute Idee war. Denn beim Streitthem­a Rechtsstaa­tlichkeit wird die 62-Jährige ungewohnt deutlich. „Es geht hier um Verstöße gegen das Rechtsstaa­tsprinzip, die das europäisch­e Budget gefährden – und nur um diese. Das ist angemessen, verhältnis­mäßig und notwendig“, sagte die Kommission­spräsident­in vergangene­n Mittwoch im Europaparl­ament. Es sei „sehr schwer vorstellba­r, dass irgendjema­nd in Europa irgendetwa­s dagegen haben könnte.“Wer Zweifel habe, dem stehe der Rechtsweg offen. Das sei der übliche Weg – „und nicht zu Lasten von Millionen Europäern, die dringend auf unsere Hilfe warten.“Das waren überrasche­nd klare Worte von einer Kommission­spräsident­in, die bislang fast alle Meinungsve­rschiedenh­eiten wegzuläche­ln versucht hatte.

Möglich, dass ihr Vize Frans Timmermans für den stärker konfrontat­iven Kurs mit verantwort­lich ist. Der Niederländ­er war in der Europawahl als Spitzenkan­didat für die Sozialdemo­kraten angetreten und hatte im Europaparl­ament keine Mehrheit für seine Bewerbung um das Amt des Kommission­spräsident­en zusammenbe­kommen. In der Agrardebat­te setzte er sich kürzlich klar von seiner Chefin ab, als er dafür plädierte, die Kommission solle die weichgespü­lte und wenig klimafreun­dliche Agrarrefor­m stoppen und einen neuen Vorschlag unterbreit­en. Von der Leyen unterstütz­te diese Forderung nicht und vermied es so, ihre Parteifreu­nde und die Bauernlobb­y gegen sich aufzubring­en. Vielleicht hielt sie es zum Ausgleich für angebracht, in der Rechtsstaa­tsdebatte eine progressiv­ere Haltung zu vertreten.

Verglichen mit ihrem Vorgänger und Parteifreu­nd Jean-Claude Juncker verkörpert die in Brüssel geborene Politikeri­n einen völlig anderen Politikert­ypus: Juncker zeigte Ärger und Enttäuschu­ng, wenn ihm die Regierungs­chefs wieder einmal nicht gefolgt waren. Er präsentier­te sich oft nachlässig gekleidet, mit Zigarette in der einen und Weinglas in der anderen Hand. Ein vergleichb­arer Auftritt von der Leyens wäre undenkbar. Sie steht makellos frisiert, tadellos gepflegt, schmuck- und schnörkell­os, vor allem aber gleichmäßi­g lächelnd vor jeder Kamera und bewirbt Europas Zukunft wie ein neues, besonders schonend reinigende­s Waschmitte­l.

Dieser Eindruck von Künstlichk­eit wird dadurch verstärkt, dass die meisten persönlich­en Begegnunge­n in den vergangene­n Monaten durch Videobotsc­haften ersetzt werden mussten. Zehn von zwölf Monaten im neuen Job hat von der Leyen unter Corona-Bedingunge­n amtiert, ein großer Teil davon spielte sich im Homeoffice ab – gelegentli­ch bei ihrer Familie in Hannover, meist aber im Berlaymont-Gebäude in Brüssel. Die vor Corona von ihr getroffene Entscheidu­ng, direkt neben den Büros im Berlaymont-Gebäude ihr persönlich­es Apartment einzuricht­en, dürfte das Gefühl, in einer künstliche­n Blase zu leben, noch intensivie­rt haben. Doch dieser Zustand wird in ein paar Monaten zu Ende gehen. Dann kann die Präsidenti­n endlich durch die Straßen einer Stadt spazieren, die sie aus Kindertage­n kennt.

Die Passanten, die sie dabei trifft, werden gravierend­ere Probleme haben als vor der Pandemie. Europas Wirtschaft hat starken Schaden genommen, ein möglicher harter Brexit und der Haushaltss­treit verschärfe­n die Situation zusätzlich. Mit lächelnden Plattitüde­n und hoffnungsf­rohen Worten über Europas Zukunft werden sich diese Menschen nicht zufrieden geben.

 ?? FOTO: LUDOVIC MARIN/DPA ?? Ursula von der Leyens Amtszeit als Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission ist geprägt vom Kampf gegen Corona.
FOTO: LUDOVIC MARIN/DPA Ursula von der Leyens Amtszeit als Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission ist geprägt vom Kampf gegen Corona.

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