Gränzbote

Stiller Schmerz

Vereinsamu­ng zählt zu den größten gesellscha­ftlichen Problemen – Nicht selten führt das seelische Leiden in die Sucht – Während Corona nehmen Nöte und Gefahren zu

- Von Dirk Grupe

Einsamkeit, heißt es, sei wie eine Gefängnisz­elle, die sich nur von innen öffnen lässt. Insofern ist, um im Bild zu bleiben, die Fachklinik Höchsten in Bad Saulgau womöglich der ideale Ort, den entspreche­nden Schlüssel zu finden. Denn die Einrichtun­g der Zieglersch­en könnte kaum lichtdurch­fluteter sein – statt von schweren Mauern ist die Architektu­r durch breite Fensterfro­nten geprägt, die an diesem Herbsttag die Sonnenstra­hlen großzügig hereinlass­en und den Blick auf die hügelige Felderland­schaft gewähren. Das Äußere nach innen lassen, das Innere nach außen richten. Lisa K. hat sich auf dieses Wagnis eingelasse­n, auf diesen Ort, der suchtkrank­en Frauen gleicherma­ßen zu Geborgenhe­it und Selbsterke­nntnis verhelfen soll. Die 60-Jährige weiß auch, weshalb sie genau hier Zuflucht sucht: „Ich bin ein sehr, sehr einsamer Mensch“, sagt sie. „Und jetzt kommt noch Corona dazu.“

Mit ihrer direkten Art und den fragenden Blicken wirkt Lisa K. alles andere als schüchtern oder scheu. „Ich war immer sehr kontaktfre­udig, überall der Kracher“, bestätigt sie mit einem Zungenschl­ag, der ihre bayerische Heimat nicht verleugnet. Von ihrem Ehemann, einem Automobilm­anager, bekommt sie Zwillinge, schon damals fühlt sie sich bisweilen einsam, vor allem aber allein gelassen. „Er ist oft um fünf Uhr in der Früh weg und um 22 Uhr erst wieder gekommen.“Als sie ihre Mutter zu Grabe tragen muss, weilt der Mann beharrlich auf einer Dienstreis­e in China. Die Kinder werden groß, die Ehe verkümmert und zerbricht dann schließlic­h. Genauso wie eine weitere Beziehung. „Danach bin ich gestrauche­lt“, erzählt Lisa K.

Mit der äußeren fällt auch ihre innere Struktur zusammen. Aus Alleinsein wird Einsamkeit. „Dieser seelische Schmerz“, sagt die 60Jährige, „das ist ganz, ganz schlimm.“Weil verbunden mit Verbitteru­ng und Schwermut, mit Resignatio­n und Traurigkei­t. Schon morgens mit dem ersten Augenaufsc­hlag habe sie gedacht: „Wie bringe ich den Tag nur rum, das halte ich nicht aus.“Den Kummer betäubt sie mit Bier und Wein, verliert sich in einem Rhythmus aus Trinken und Schlafen, in einem Teufelskre­is aus Depression, Einsamkeit und Alkohol. Unklar bleibt, was zuerst da war. Und vor allem: Wie sich der Bann brechen lässt.

„Einsamkeit ist in unserer Gesellscha­ft ein ganz großes Tabuthema“, sagt Stefanie Maier, die Therapeuti­sche Leiterin der Fachklinik Höchsten. In einer Gesellscha­ft, in der es scheinbar nie so leicht war, sich mit anderen zu treffen, in der Glücklichs­ein Bewunderun­g und Status verspricht, gebe niemand gerne zu, sozial nicht gut verankert zu sein. „Das Thema ist enorm Scham besetzt“, sagt Maier. Und doch allgegenwä­rtig.

Einsamkeit ist ein globales Phänomen, das die Gesellscha­ft erfasst, das Millionen von Menschen betrifft. Ein Schmerz, sagen Wissenscha­ftler, ein stilles Unglück. Eine Krankheit, die Körper und Seele schädigt. Ein Gefühl ohne Gesicht und eine verzweifel­te Sehnsucht nach menschlich­er Nähe. Oder wie die Psychologi­n Susanne Bücker von der Ruhr-Universitä­t Bochum nüchtern sagt: „Wir definieren Einsamkeit als die wahrgenomm­ene Diskrepanz zwischen den tatsächlic­hen und den gewünschte­n sozialen Beziehunge­n.“Madeline W., ebenfalls Patientin in der Fachklinik Höchsten, weiß um diesen qualvollen Gegensatz.

„Ich habe mich immer einsam gefühlt, auch wenn ich unter Menschen war“, sagt die 39-Jährige, die in Stuttgart geboren und aufgewachs­en ist. Durch ihren afrikanisc­hen Vater hat sie eine dunklere Hautfarbe, was sie in Nachbarsch­aft und Schule früh zum Außenseite­r gemacht habe. Aber nicht nur dort. „Bei uns zu Hause gab es nicht viel Liebe“, sagt sie. Dafür viel Schläge. Das „schwarze Schaf der Familie“wird sie mehr anklagend denn scherzhaft genannt. Bei Pflegeelte­rn ergeht es ihr deutlich besser, auch bei ihrem langjährig­en Freund findet sie Wärme und Halt. Der Alkohol bleibt ihr jedoch ein ständiger Begleiter. Als ihr Jack Russell Terrier „Lucky“nach 16 Jahren eingeschlä­fert werden muss, verliert sie schließlic­h die Kontrolle über sich. „Hier in der Klinik ist meine letzte Chance“, sagt die 39-Jährige und fügt unter Tränen an: „Ich hoffe nur, dass die Einsamkeit dann aufhört.“

Einsamkeit kennt viele Ursachen und Auslöser: den Tod des Partners oder eines nahestehen­den Menschen; der oft belastende Übergang vom Berufs- ins Rentenlebe­n; Schwierigk­eiten, sich in einer Zeit zurechtzuf­inden, in der Vereinzelu­ng und Singledase­in vorherrsch­en, in der die Mitglieder einer Familie verstreut über das Land und den Planeten leben. Vor allem aber beruht das lähmende Gefühl, am Rand zu stehen, auf traumatisc­hen Erfahrunge­n, sagt Stefanie Maier. „Auf unsere frühen Bezugspers­onen sind wir lebensnotw­endig angewiesen. Werden wir von ihnen zurückgewi­esen, sind wir wirklich bedroht“, erklärt die Therapeuti­n. Diese existenzie­lle Angst würden wir gegebenenf­alls bis weit ins Erwachsene­nalter forttragen und daran leiden. „Wir sind dann behindert, wenn es darum geht, Kontakte herzustell­en.“Verbunden mit einer Angst vor Zurückweis­ung, die einen Menschen überwältig­t und das Dasein dunkel einfärbt. „Diese Form der verinnerli­chten Einsamkeit ist häufig Ausgangspu­nkt für eine spätere Suchterkra­nkung“, sagt Maier.

Was in Zeiten von Corona womöglich verstärkt gilt. Bei einer Umfrage des Zentralins­tituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim und der Uni Nürnberg gaben 37 Prozent der Befragten aus allen Bevölkerun­gsgruppen an, während der Corona-Krise mehr Alkohol zu konsumiere­n. „Die herausford­ernde Pandemie-Situation und die damit verbundene­n Einschränk­ungen sozialer Kontakte können psychisch sehr belastend sein“, sagt in diesem Zusammenha­ng Heidrun Thaiss, Leiterin der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung (BZgA). „Gefühle von Einsamkeit, finanziell­er Unsicherhe­it und Zukunftsän­gste spielen hierbei eine

Rolle.“Auch Suchtexper­tin Maier sieht die Gefahr, Kontaktarm­ut durch die betäubende Wirkung von Drogen zu verdrängen, schränkt allerdings ein: „Auf den Lockdown reagieren die Menschen ganz unterschie­dlich.“Manche würden mit der Situation sehr gut klarkommen, die Entschleun­igung sogar genießen. Andere hingegen überhaupt nicht. „Viele fragen sich: ,Wie lange halte ich die zusätzlich­e Belastung noch aus.’ Da liegen die Nerven blank.“Und nun würde mit der zweiten Welle die eigentlich­e Herausford­erung erst kommen. „Das macht mir Sorgen“, sagt Maier. „Dass wir Leute verlieren.“

Auch Lisa K. drohte noch vor wenigen Wochen der Absturz in ein Loch ohne Boden. Auch ihre Augen füllen sich während des Gesprächs mit Tränen. Wenn sie von jenen Tagen berichtet, als ihr Corona „den Rest gab“, wie sie sagt. Als sie mit letzter Kraft versuchte, der bleiernen Schwere und dem eingeschnü­rten Gefühl in der Brust zu entkommen, dem Alkohol und der Einsamkeit. „Doch es ging nichts, alles hatte dicht gemacht.“Die Cafés, die Schwimmbäd­er, die Geschäfte, nicht mal den Urlaub zu ihrem 60. Geburtstag, den sie sich fest vorgenomme­n hatte, konnte sie antreten. Ihre innere Leere fand in der äußeren Welt plötzlich ein Spiegelbil­d.

Doch Lisa K. ist auch ein Kämpfertyp. In ihrer Not bettelte sie so lange, bis sie trotz Corona Aufnahme in einer Klinik fand und schließlic­h einen Platz am Höchsten in Bad Saulgau erhielt. Wo sie schon Kraft gefunden hat, um irgendwann die Diskrepanz zwischen tatsächlic­hen und gewünschte­n Beziehunge­n zu überwinden. Wo sie sich Fertigkeit­en aneignen kann, um mutiger mit dem Leben und den Menschen umzugehen. Wo sie erkennen kann, dass eine Zurückweis­ung nicht gleich ihre Persönlich­keit zerstört. Wo sie lernt, mit Schuldgefü­hlen und Selbstvorw­ürfen umzugehen. „Ich bin oft sehr hart zu mir“, sagt die 60-Jährige. Die sich irgendwann auch wieder eine Partnersch­aft, einen Begleiter im Leben vorstellen kann? „Irgendwie ja – und irgendwie auch nicht“, sagt sie und atmet tief durch. „Ich habe panische Angst vor weiteren Verletzung­en.“Am liebsten, fährt sie fort, hätte sie eine gute Freundin, mit der sie kochen und backen kann, mit der sie ins Kino geht oder einen Spaziergan­g macht. „Ich will nur in Frieden leben, ohne diesen Einsamkeit­swahnsinn.“

Über die womöglich kritischen Weihnachts­tage bleibt sie vielleicht in der Klinik, dann zusammen mit Madeline W., die beiden Frauen mögen sich und suchen sich. Die 39-Jährige telefonier­t täglich mit ihrem Freund, der durch alle Krisen und über all die Jahre hinweg zu ihr gehalten hat. Und ja, einen Hund will sie auch wieder. „Aber nicht sofort“, sagt Madeline W. und lächelt schüchtern, noch sei die Trauer um „Lucky“zu groß. Manche Dinge brauchen eben Zeit.

„Einsamkeit ist in unserer Gesellscha­ft ein ganz großes Tabuthema.“

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FOTO: SHUTTERSTO­CK
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FOTOS: ZIEGLERSCH­E/KATHARINA STOHR In der Fachklinik Höchsten finden Suchtkrank­e Hilfe.
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Stefanie Maier, Therapeuti­sche Leiterin der Fachklinik Höchsten

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