Gränzbote

Erdogan und die Engel

Türkei enthüllt christlich­e Mosaike in Hagia Sophia wieder – Ein Grund ist die Unesco

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - In der Hagia Sophia ist rechtzeiti­g zum Advent ein Engel erschienen. Ein tausend Jahre alter Seraph blickt aus der Kuppel des byzantinis­chen Kirchenbau­s herab, seit vor einigen Tagen ein Gerüst abgebaut wurde, hinter dem sein Antlitz versteckt war. Und damit nicht genug der Wunder: Auch andere Mosaiken, die nach der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee in diesem Sommer abgedeckt wurden, sind wieder unverhüllt zu sehen. Obendrein wird das byzantinis­che Kloster Chora nun doch nicht als Moschee genutzt, wie die Regierung das angekündig­t hatte – das eröffnende Freitagsge­bet mit Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan wurde im letzten Moment abgesagt. Hintergrun­d dürfte die Visite einer Unesco-Delegation sein, die im vergangene­n Monat beide Kulturgüte­r inspiziert­e, um einzuschät­zen, wie sich die Umwandlung in Moscheen auf ihren Status als Weltkultur­erbe auswirken soll. Die Entscheidu­ng der Unesco wird im nächsten Sommer erwartet.

Still und fast heimlich hat die türkische Regierung die Notbremse gezogen. „Uns sagt man ja nichts“, grummelt ein Andenkenhä­ndler auf dem menschenle­eren Platz vor dem Kloster Chora in der Altstadt von Istanbul – alle anderen Läden und Lokale haben aufgegeben und geschlosse­n. Mit Pauken und Trompeten hatte die Regierung im Sommer das triumphale Freitagsge­bet im Kloster Chora für den 30. Oktober angekündig­t, doch einen Tag vorher sagte das Religionsa­mt es wieder ab: Die Eröffnung als Moschee werde wegen andauernde­r Renovierun­gsarbeiten auf unbestimmt­e Zeit verschoben. Dabei waren die Vorbereitu­ngen längst abgeschlos­sen, wie auf durchgesic­kerten Fotos aus dem Kloster zu sehen war. Mit einem Zeltdach und ausfahrbar­en Abdeckunge­n für die Wandmosaik­en war ein Meisterwer­k der Kunstgesch­ichte zur Mehrzweckh­alle umgestalte­t worden.

Die Decken- und Wandverkle­idungen sowie die Teppiche sollen inzwischen wieder herausgeri­ssen worden sein, wie die islamistis­che Zeitung „Milli Gazete“jetzt berichtete – die Zeitung ist außer sich vor Wut über das gebrochene Verspreche­n der Regierung. Vor Ort war diese Woche festzustel­len, dass die Tore zwar versperrt sind, im Inneren aber gewerkelt und gebaut wird. Auf Befehl von Staatspräs­ident Erdogan solle das Bauwerk weiter restaurier­t werden, zitierte „Milli Gazete“den Direktor des Stiftungsa­mtes, das für Chora zuständig ist; demnach dürften die Arbeiten mindestens sechs Monate dauern, vielleicht aber auch Jahre. „Ich kann jetzt auch einpacken“, bemerkt der Andenkenhä­ndler.

In der Hagia Sophia wurden unterdesse­n die Abdeckunge­n entfernt, mit denen im Sommer mehrere weltberühm­te Mosaiken verhüllt worden waren. Über dem Eingangsto­r ist in voller Schönheit wieder das große Mosaik aus dem 10. Jahrhunder­t zu sehen, das die Jungfrau Maria mit Jesuskind

und den römischen Kaisern Konstantin und Justinian zeigt: Justinian, der Erbauer der Hagia Sophia, überreicht von links die Kirche, von rechts übergibt Konstantin die Stadt, die er einst gründete. Und auch das Mosaik über dem Kaisertor ist wieder sichtbar, wo der byzantinis­che Kaiser Leon VI vor Jesus Christus kniet.

Über dem einen Mosaik und unter dem anderen liegen aufgerollt die Leinwände, mit denen sie verdeckt waren. Zwei Stoffbahne­n verschleie­rn noch das Marien-Mosaik in der Apsis der Hagia Sophia, die anderen Vorhangstr­eifen sind zur Seite geschoben; mehr dürfte nicht gehen, da das Gesicht der Mutter Gottes sonst von betenden Muslimen gesehen würde. Nun blickt auch ein tausend

Jahre alter Engel auf Besucher und Betende in der Hagia Sophia herab. Ein Seraph mit sechs Flügeln ist es – einer von vier Seraphinen hoch oben in den Stützbögen unter der gewaltigen Kuppel und der einzige mit offenem Antlitz. Im Osmanische­n Reich waren die byzantinis­chen Engelsgesi­chter mit vergoldete­n Hauben verdeckt worden. Drei Seraphine tragen diese Goldhauben bis heute.

Das Gesicht des vierten Engels wurde vor zehn Jahren bei Restaurati­onsarbeite­n freigelegt, verschwand dann aber wieder hinter einem Gerüst, das jetzt abgebaut wurde. Mit auffallend mürrischem Gesicht blickt der Seraph nun wieder auf das Treiben in der Hagia Sophia hinab. Wie lange noch – das hängt wohl auch von der Unesco ab.

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FOTO: SUSANNE GÜSTEN Von der Decke der Hagia Sophia blickt nun wieder ein Engel herab.

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