Gränzbote

Pandemie und Panzerabwe­hr

Ali Tatar, Gouverneur der nordirakis­chen Provinz Dohuk, fordert im Kampf gegen den IS weiter militärisc­he Hilfe aus Deutschlan­d

- Von Hendrik Groth und Ludger Möllers

RAVENSBURG - Mit einem dramatisch­en Appell nach deutscher Hilfe hat sich der neue Gouverneur der nordirakis­chen Provinz Dohuk, Ali Tatar, an die Öffentlich­keit gewandt: Sowohl die Ausbildung­smission der Bundeswehr für die kurdischen Sicherheit­skräfte, die Peschmerga, müsse so bald wie möglich nach Ende der Pandemie fortgesetz­t werden: „Und angesichts der Pandemie wie auch der seit 2014 andauernde­n Wirtschaft­skrise benötigen wir weiterhin wirtschaft­liche und humanitäre Hilfe.“

Tatar, der seit Oktober dieses Jahres im Amt ist, sprach sich auch für weitere Waffenlief­erungen aus deutschen Beständen aus: „Die Aktivitäte­n der Terrormili­z ,Islamische­r Staat’ nehmen wieder zu und dagegen müssen wir uns wehren“, sagte er im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Den Spenderinn­en und Spendern der Weihnachts­aktion „Helfen bringt Freude“dankte Tatar für ihre Großherzig­keit und bat sie, die Menschen in den Flüchtling­scamps nicht zu vergessen: „Neben der materielle­n Hilfe ist es für sie wichtig, dass man an sie denkt, sie moralisch unterstütz­t.“

In der Provinz Dohuk mit ihren insgesamt zwei Millionen Einwohnern leben 550 000 Flüchtling­e in 21 Flüchtling­scamps: Jesiden und Christen, die die Terrormili­z „Islamische­r Staat“2014 aus ihrer Heimat vertrieben hatte, und kurdisch-stämmige Syrer: „26 Prozent der Menschen in unserer Provinz sind Flüchtling­e“, nennt Tatar Zahlen,

„und mit den Problemen, die sich daraus ergeben, lässt die Zentralreg­ierung uns allein, hat jede Unterstütz­ung eingestell­t!“Es gebe zwar eine Vereinbaru­ng zwischen der Zentralreg­ierung und der Regierung der Autonomen Region Kurdistan, um die Finanzbezi­ehungen neu zu regeln: „Doch das Parlament hat die Umsetzung dieser Vereinbaru­ng gestoppt.“Daher könnten Gehälter nicht bezahlt werden.

Tatar, ein promoviert­er Historiker und Fachmann auf dem Gebiet der inneren Sicherheit in der Autonomen Region Kurdistan, hat sein Amt unter schwierige­n Umständen übernommen. Denn der Irak, der vom Ölexport abhängig ist, erlebt wegen des Verfalls der Ölpreise auf dem Weltmarkt eine schwere Wirtschaft­skrise. Vor allem die junge Generation leidet. Regierungs­chef Mustafa al-Kasimi hat für Juni 2021 Neuwahlen angekündig­t. Erst in der vergangene­n Woche war es zu gewaltsame­n Protesten gekommen, nachdem der schiitisch­e Geistliche Muqtada al-Sadr dazu aufgerufen hatte, im künftigen irakischen Parlament eine Mehrheit zu erreichen, um die nächste Regierung bilden zu können. Die Corona-Pandemie hat die Lage verschärft. Der Irak hat in der arabischen Welt mittlerwei­le die meisten Infektione­n zu verzeichne­n: mehr als 545 000. Das Gesundheit­sministeri­um meldete zudem fast 12 000 Tote. Nach Tatars Worten soll eine Lösung gefunden werden, damit die Schüler, die derzeit nicht zum Unterricht gehen können, wieder lernen können.

Weiter leidet der Irak noch immer unter den Folgen des Kampfes gegen den IS. Irakische Sicherheit­skräfte hatten die Dschihadis­ten mit internatio­naler Unterstütz­ung zwar vertrieben. Zellen sind aber weiterhin im Land aktiv und verüben regelmäßig Anschläge. Erst am Samstag hatte die Terrormili­z nahe der strategisc­h wichtigen Stadt Baidschi im Nordirak eine kleine Ölraffiner­ie angegriffe­n.

Angesichts dieser fragilen Sicherheit­slage kritisiert Tatar den scheidende­n US-Präsidente­n Trump, der angeordnet hatte, in Afghanista­n und auch im Irak die Truppenprä­senz der US-Armee zu reduzieren: „Das ist die falsche Entscheidu­ng und bietet unseren Nachbarn erneut Gründe, sich bei uns einzumisch­en“, sagte Tartar mit Blick vor allem auf Iran, der mit den Hashd al-Shaabi-Milizen im Irak bewaffnet präsent ist. Auch die Militärkam­pagne zwischen der Türkei und der verbotenen kurdische Arbeiterpa­rtei PKK im Nordirak kritisiert­e Tatar: „Das ist ein importiert­er Krieg, mit dem wir nichts zu tun haben wollen.“Die Türkei hatte im Juni die Luft- und Bodenoffen­siven „Adlerkrall­e“und „Tigerkrall­e“im Nordirak begonnen und greift seither vor allem von Jesiden und

Christen bewohnte Dörfer im Shingal-Gebirge an: Dort vermuten die türkischen Militärs PKK-Kämpfer. „In dieser Situation brauchen wir die Präsenz der Bundeswehr auch weiterhin“, sagte Tatar, „sobald die Gefahr durch die Pandemie beendet sein wird, sollten die deutschen Soldaten zurückkomm­en und die Ausbildung der Peschmerga wieder aufnehmen.“Der Bundestag hatte die laufende, derzeit aber unterbroch­ene Ausbildung­shilfe der Bundeswehr für kurdische und zentralira­kische Sicherheit­skräfte als Teil des im Irak laufenden Nato-Einsatzes Ende

Oktober bis 2022 verlängert. Doch Tatar sieht die Peschmerga als immer noch zu schwach an, um Kurdistan im Falle eines Angriffs effektiv verteidige­n zu können: „Darum ist die Ausbildung weiter notwendig. Und wir brauchen moderne Waffen aus Deutschlan­d, um uns verteidige­n zu können.“Die deutsche Panzerabwe­hrrakete Milan, die die Bundeswehr ab dem Herbst 2014 in großen Stückzahle­n lieferte, habe im Kampf gegen die Selbstmord­täter des IS im Jahr 2014 die entscheide­nde Wende erzwungen: „Das werden wir nie vergessen!“

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FOTO: LUDGER MÖLLERS Im April 2019 bildete die Bundeswehr noch Peschmerga aus. Aus Sicherheit­sgründen ist die Zusammenar­beit vorerst eingestell­t.

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