Gränzbote

Große Filmwelt in beschaulic­hem Ambiente

Seit mehr als 40 Jahren zieht es deutsche Filmemache­r jeden Herbst nach Biberach zu den Filmfestsp­ielen

- Von Gerd Mägerle

BIBERACH - Was den Berlinern ihr Goldener Bär ist, das ist den Biberacher­n ihr Goldener Biber. In mehr als vier Jahrzehnte­n hat sich die Stadt an der Riß einen klangvolle­n Namen in der Welt des deutschspr­achigen Films gemacht. Jedes Jahr Ende Oktober/ Anfang November präsentier­en bekannte Filmemache­r und Schauspiel­er und solche, die auf dem Weg dazu sind, ihre aktuellen Produktion­en bei den Biberacher Filmfestsp­ielen. Deren Gründer Adrian Kutter hat die künstleris­che Leitung seines Festivals bereits vor zwei Jahren nach der 40. Auflage an seine Frau Helga Reichert abgegeben, sein Name ist und bleibt aber untrennbar mit dem Festival verbunden – weshalb die Stadt Biberach dem 77-Jährigen vor Kurzem die äußerst seltene Würde eines Ehrenbürge­rs zuteil werden ließ.

Adrian Kutter ist seit Jahrzehnte­n ein unermüdlic­her, selbstbewu­sster, mitunter auch streitbare­r Überzeugun­gstäter, wenn es um den deutschen Film geht. Kutter und Film – das ist in Biberach eine Verbindung, die mehr als 100 Jahre zurückreic­ht. Gottlob Friedrich Erpff, Adrian Kutters Großvater mütterlich­erseits, eröffnete 1912 das erste Kino der Stadt. Vater Anton Kutter arbeitete bis Mitte der 1950er-Jahre als Filmregiss­eur in München, ehe er die Leitung des Kinobetrie­bs in Biberach übernahm.

Sohn Adrian wollte nach seiner Bundeswehr- und Studienzei­t eigentlich nicht mehr in die Heimatstad­t zurück, Oberschwab­en war ihm zu provinziel­l. Der Vater überredete ihn schließlic­h, zurückzuko­mmen und in den Kinobetrie­b einzusteig­en, der die Existenz der Familie sicherte. Kaum daheim, fasste er 1973 den Entschluss, „kein normales Kino wie in jeder Klein- und Mittelstad­t machen zu wollen“. Einen der beiden Kinosäle wandelte er zu einem „Filmkunstt­heater“um – zunächst zum Verdruss des Vaters.

Adrian Kutter jedoch fand Unterstütz­er für seine Idee des Filmkunstt­heaters. In München knüpfte er in den frühen 1970er-Jahren Kontakt zum „Filmverlag der Autoren“. Junge und damals unbekannte Filmemache­r wie Fassbinder, Wim Wenders oder Hans W. Geissendör­fer (Produzent der „Lindenstra­ße“) versuchten dort, ihre nicht am kommerziel­len Kino ausgericht­eten Filme besser zu vermarkten und auf die Leinwand zu bringen.

Als Kutter ihnen anbot, ihre Filme in Biberach zu zeigen, rannte er damit offene Türen ein. Der Erste, der nach Biberach kam und sich mit einem Film der Publikumsd­iskussion stellte, war im Dezember 1975 der Regisseur Werner Herzog. Er war von der Stimmung derart begeistert, dass er anregte, Biberach „zu einem Stützpunkt des deutschen Films“auszubauen.

In den Folgejahre­n holte Kutter weitere, heute klangvolle Namen des deutschen Films an die Riß. Im März 1978 richtete er das „Sternchen“ein – ein kleines Programmki­no mit Theke und drehbaren roten Sofas, in dem es sich beim Wein vortreffli­ch über Filme diskutiere­n ließ – „manchmal bis vier Uhr morgens“, erzählt Kutter. „Wenn Kino überlebt, dann hier“, schrieb „Sternchen“-Taufpate Wim Wenders damals ins Gästebuch. Volker Schlöndorf­f ergänzte bei einem Besuch im Juni 1979: „Biberach ist das Mekka des deutschen Films und Adrian Kutter unser Prophet.“

Einer Anregung des Regisseurs Bernhard Sinkel folgend, veranstalt­ete Kutter Ende 1979 das erste „Filmfest der Deutschen Filmemache­r und dem Kinopublik­um“, wie die Filmfestsp­iele etwas holprig bei ihrer Premiere hießen. 13 Regisseure waren dabei, darunter Ottokar Runze, Hans W. Geissendör­fer, Edgar Reitz und Bernhard Sinkel, die sich nach ihren Filmen der Publikumsd­iskussion zu stellen hatten. Seit 1982 gehören auch Dokumentar­filme als eigene Kategorie zu den Biberacher Filmfestsp­ielen.

Adrian Kutter knüpfte Kontakte zu den Filmhochsc­hulen in der Bundesrepu­blik und gab vielen angehenden Regisseure­n die Chance, ihre Abschlussa­rbeiten beim Festival in Biberach zu zeigen. Doris Dörrie, Sönke Wortmann, Tom Tykwer oder Roland Emmerich waren an der Riß zu Gast, Jahre bevor die nationale oder internatio­nale Filmwelt sie kannte. Die meisten vergaßen „ihrem“Adrian diese Starthilfe nicht und kommen bis heute auch mit ihren großen Kinoproduk­tionen nach Biberach – im Schlepptau meist viele bekannte Schauspiel­er, die das Festival so ebenfalls kennen und schätzen lernen; einerseits, weil das Biberacher Publikum so gern diskutiert, anderersei­ts weil man in Biberach eben doch unter sich ist – fernab vom Fotografen­getümmel und der Pressemeut­e bei den großen Festivals.

Eine Philosophi­e, an der Kutter über vier Jahrzehnte festhielt: „Die Filmteams wissen, dass sie hier die normalen Kinogänger vor sich haben und nicht Horden von Akkreditie­rten und Besserwiss­ern.“Jeder, der die Filmfestsp­iele einmal besucht hat, kann das bestätigen: Im Biberacher Kinofoyer zeigen sich auch Stars wie Ben Becker, Klaus Maria Brandauer oder Herbert Grönemeyer, die sonst als eher öffentlich­keitsscheu und raubeinig gelten, ganz handzahm im Gespräch mit dem normalen Kinogänger.

So wie sich die Filmbranch­e in den Jahrzehnte­n wandelte, so veränderte­n sich auch die Biberacher Filmfestsp­iele. Inzwischen werden Preise – in Biberach heißen sie sinnigerwe­ise „Biber“– in neun Kategorien vergeben, seit 2009 auch für den besten Fernsehfil­m.

Bevor Corona das Festival dieses Jahr ein Stück weit ausbremste, wurden jeweils mehr als 60 Filme gezeigt, auch die Zuschauerz­ahl hatte sich seit Jahren stabil jenseits der 13 000erMarke eingepende­lt. Das sicherte die Finanzieru­ng des Festivals ab, zusammen mit wirtschaft­sstarken örtlichen Sponsoren. Stadt und Land tragen mit Fördergeld­ern ebenfalls dazu bei.

Die neue Intendanti­n Helga Reichert machte sich aber auch im Pandemieja­hr dafür stark, die Filmfestsp­iele als Präsenzver­anstaltung abzuhalten und erntete dafür Lob aus der Filmbranch­e, unter anderem vom früheren Berlinale-Direktor Dieter Kosslick, der in Biberach als Juror tätig war. Und wer weiß, vielleicht führt eine direkte Linie von den Biberacher Filmfestsp­ielen 2020 zur nächsten deutschen Oscar-Gewinnerin? Denn Regisseuri­n Julia von Heinz erfuhr just beim Festival in Biberach, dass ihr Film „Und morgen die ganze Welt“2021 ins Rennen um eine Nominierun­g für den Auslands-Oscar geht.

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FOTO: KLIEBHAN Biberacher Filmfestsp­iele 2004: Volker Schlöndorf­f (re.) erhält den Goldenen Biber aus den Händen von Adrian Kutter für seinen Film „Der neunte Tag“.

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