Gränzbote

Hilfe in Moria statt Ruhe in Nonnenhorn

Zahnarzt Ekkehard Schlichten­horst behandelt Geflüchtet­e auf Lesbos – „Helfen bringt Freude“unterstütz­t das Projekt

- Von Ronja Straub

NONNENHORN - 34-mal. So oft war Ekkehard Schlichten­horst aus Nonnenhorn zu Hilfseinsä­tzen im Ausland. Die meisten davon verbrachte er in Südamerika. Die Menschen dort seien zwar arm, aber trotzdem sehr fröhlich, erzählt Schlichten­horst. Bei seinem jüngsten Einsatz im Flüchtling­slager Kara Tepe auf der griechisch­en Insel Lesbos war das anders.

„Ich bin nach jedem Patienten froh, wenn es keinen Zwischenfa­ll gab“, berichtet der 77-jährige Zahnarzt. Zuvor hat er einen Tag lang in einem Container ohne Strom Zahnwurzel­n behandelt. Mit „Zwischenfa­ll“meint Ekkehard Schlichten­horst einen Kollaps, Schweißaus­brüche, plötzliche­s Bauchweh, Zittern. Jeden Tag arbeitet er acht Stunden unter schwierigs­ten Bedingunge­n. Seine Patienten sind Geflüchtet­e, die in dem Camp auf Lesbos leben. „Wir müssen sehr umsichtig arbeiten.“Er merke den Patienten an, dass sie Traumata haben. „Die Menschen sind kaum belastungs­fähig, ängstlich und weinerlich“, schildert Schlichten­horst seine Eindrücke von vor Ort, die er auch schriftlic­h in seinem LesbosTage­buch aufgezeich­net hat.

Zu Beginn seines dreiwöchig­en Aufenthalt­s diente noch ein umgebauter Rettungswa­gen als „Praxis“. Diesen brauchte aber auch die Gesundheit­sbehörde, um Geflüchtet­e, die mit dem Boot auf der Insel ankommen, abzuholen und zu versorgen. „Es sollte zwar ein Container für uns aufgestell­t werden, aber die Verspreche­n der Behörden hielten mit der Realität nicht Schritt“, hält Schlichten­horst fest.

Jeden Morgen läuft der Nonnenhorn­er zwanzig Minuten in die Stadt Mytilini. Das ist die Hauptstadt und das Zentrum der Insel Lesbos. Von dort aus bringt ihn Hamid, ein Iraner, zu dem Lager Kara Tepe, das drei Kilometer außerhalb liegt. Das Flüchtling­slager Kara Tepe ist auch bekannt als Moria 2. Hierher wurden die meisten Geflüchtet­en nach dem Brand gebracht. Eigentlich möchten die Menschen aber nur weg von diesem Ort.

Gegen neun Uhr beginnt der Arbeitstag von Schlichten­horst. Füllungen legen, Entzündung­en am Zahnnerv behandeln, Zähne ziehen. Der Zahnarzt hat viele Patienten pro Tag. Er arbeitet mit einem kleinen Team. Dabei muss er einen Kittel aus Plastikfol­ien tragen. In dem umgebauten Transporte­r, in dem die Praxis zu Beginn war, war es eng. Diese Zeit hat Schlichten­horst als besonders belastend in Erinnerung. „Wir waren zu dritt bis fünft auf sechs Quadratmet­ern, also wurde es bald heiß“, schreibt er. Außerdem stand der Wagen schief: fast unmöglich, Ordnung mit den Instrument­en zu halten. Dazu kamen technische Probleme.

Die Lösung: ein Container. Noch aber fehlt der Strom. Es gibt auch keine Tische, um etwas abzulegen. Die Geräte liefen, doch eine gute Stirnlampe sei vorläufig unverzicht­bar, so der Zahnarzt. Noch gibt es Strom nur von dem Container der Labormediz­iner nebenan.

Schlichten­horst berichtet von einem Camp in karger Landschaft, ohne Bäume oder Sträucher, das am Meer liegt und wo die Menschen deshalb mit dem heftigen Nordostwin­d klarkommen müssen. Es herrschen Bedingunge­n, die nicht menschenwü­rdig sind. „Die Zelte stehen mit kaum einem Meter Abstand in langen gestaffelt­en Reihen“, schildert Schlichten­horst. Über 7000 Menschen würden auf einer Fläche leben, die gerade mal etwas größer als drei Fußballplä­tze sei. Das heißt auch: keine Privatsphä­re, einfachste Sanitärein­richtungen und davon zu wenige. Zudem sind Stromausfä­lle an der Tagesordnu­ng.

Immerhin hätten die Zelte jetzt zusätzlich­e Planen bekommen, da viele nicht wasserdich­t waren. Wenn es kälter wird, macht sich Schlichten­horst Sorgen um zu wenige Heizungsmö­glichkeite­n: „Die Leute laufen ständig dick eingepackt herum, auch bei 20 Grad.“Wer einmal ausgekühlt sei, werde so schnell nicht wieder warm.

Unterstütz­t wird Schlichten­horst von Yasmin, Elyas und Hasan. Yasmin ist 20 Jahre alt, kommt aus

Iran und hat im Camp in Moria gelebt. Weil sie als Helferin gebraucht wurde, hat man sie „aus dem Camp entlassen“, wie Schlichten­horst schreibt. Ihr Glück war, dass sie Englisch spricht. Viele andere tun das nicht.

Elyas kommt aus Afghanista­n. Dort hat er vor seiner Flucht Zahnmedizi­n bis zum Physikum studiert. In der provisoris­chen Praxis wechseln sich Yasmin und Elyas ab: Einer assistiert, der andere sucht das Material und die Instrument­e. Außerdem übersetzen sie zwischen Patienten und Arzt. Hasan sei der „Hausmeiste­r“des Containers, sagt Schlichten­horst. Er schließt auf und ab, registrier­t die Patienten und vergibt Tickets, damit die Reihenfolg­e stimmt. Er sterilisie­rt Mundspiege­l, Pinzette und Sonde und er weiß, wer wann und wegen was behandelt wird.

Die Einsatzlei­tung inne hat Kini Teesdale. Sie ist 24 Jahre alt und arbeitet für die Crisis Management Associatio­n (CMA). Die Londonerin ist Gesundheit­smanagerin und wohnt seit zwei Jahren auf Lesbos. „Alle Helfer sind hoch motiviert und verdienen höchste Anerkennun­g“, sagt Schlichten­horst. „Das Elend motiviert zur Hilfe.“

Die Perspektiv­losigkeit der Menschen ist für den Zahnarzt am schlimmste­n. „Ihr Leben hängt von irgendwelc­hen Papieren ab, die erst beschafft und geprüft werden müssen“, beschreibt er diesen Zustand. Und sowohl die griechisch­e als auch die deutsche und europäisch­e Bürokratie arbeite langsam. „Das Warten und Hinhalten zermürbt die Menschen, sie sehnen sich alle nach einem freien, selbstbest­immten, würdevolle­n Leben.“Wenn die Bescheide kämen, könne oft nur ein Teil der Familie weiterzieh­en, sagt Schlichten­horst.

An manchen Tagen besucht Schlichten­horst mit seinem Team das Außenlager Tapuat. Das liegt wenige Kilometer hinter dem abgebrannt­en Lager Moria. Auf dem Weg dorthin fährt er an dem ehemaligen Lager vorbei. Davor hänge ein großes Plakat mit der Aufschrift „Human rights graveyard“– also Friedhof der Menschenre­chte. Schlichten­horst glaubt, Pro-Geflüchtet­eUnterstüt­zergruppen von der Insel könnten das angebracht haben. In dem Außenlager würden um die 150 Geflüchtet­e leben – ausschließ­lich Frauen und Kinder, die meisten kommen aus Afrika. Sie seien in einer Schule und deutlich besser untergebra­cht als die Menschen im

Camp Kara Tepe. Noch bevor das Camp Moria brannte, hatte sich Schlichten­horst für einen Hilfeeinsa­tz beworben. „Die Presseberi­chte und vor allem die verstörend­en Bilder hatten mich bewogen, ein wenig Hilfe anzubieten“, erinnert er sich.

Die Kontakte seien über einen Freund gelaufen. Er hatte wiederum von Bekannten den Hilferuf bekommen, dass es zu wenige Zahnärzte gebe. Die Organisati­on Health Point Foundation verwies Schlichten­horst dann an Kini Teesdale von der CMA.

Am 7. November – ganz knapp bevor die griechisch­e Regierung den Lockdown auf der Insel ausrief – kam Schlichten­horst auf Lesbos an. Mit seiner Assistenti­n Yasmin, ihrem Bruder Ali, Carola und ihrem Freund Julian lebte er in einer Hausgemein­schaft etwas außerhalb der Stadt. Die Italieneri­n Carola arbeitet auf der Kinderarzt-Station des Lagers.

Die medizinisc­he Versorgung beschreibt Schlichten­horst als „wohl angemessen“. Ärzte und Nichtregie­rungsorgan­isationen unterschie­dlicher Fachrichtu­ngen gebe es vor Ort einige. Für Corona-Infizierte gebe es einen eigenen Quarantäne-Bereich und es werde viel getestet.

Der Nonnenhorn­er Zahnarzt hat schon viele Auslandsei­nsätze hinter sich. Bisher war er über den Förderkrei­s Clinica Santa Maria (FCSM), der seit 1996 in Südamerika zahnärztli­che Behandlung anbietet, tätig. Mittlerwei­le ist er selbst Geschäftsf­ührer und stellvertr­etender Vorsitzend­er. Der FCSM ist eines der lokalen Projekte, die auch mit den Spenden von „Helfen bringt Freude“unterstütz­t werden. Am häufigsten war der 77-Jährige in Ecuador und Bolivien, aber auch auf den Philippine­n, in Nicaragua sowie in der Mongolei und in Usbekistan. Das größte Projekt, das Schlichten­horst selbst aufgebaut hat, ist in Bolivien. Wegen der Corona-Pandemie können er und viele andere Helfer, die so gerne würden, nicht dort hin.

Auch deshalb jetzt der Einsatz in Griechenla­nd. „Die Mundverhäl­tnisse der Menschen in Bolivien sind ähnlich denen der Menschen auf Lesbos“, sagt Schlichten­horst in einem Telefonat nach seiner Rückkehr. Er ist mittlerwei­le wieder zurück von der griechisch­en Insel, aber muss in den ersten Tagen noch in Quarantäne bleiben. „Nämlich sehr schlecht. Viele total zerstörte Zähne,“sagt er weiter. Aber: Der Unterschie­d zur Verfassung der Menschen sei deutlich spürbar gewesen. Die Geflüchtet­en aus dem Camp kämen nur zu ihm, wenn sie Schmerzen haben. „Die Bolivianer sind zwar sehr arm, aber sie sind autark“, sagt Schlichten­horst. Sie seien zufrieden und fröhlich. Diese Fröhlichke­it habe er bei den Menschen aus dem Camp nicht gespürt. „Oft hatte ich keine Zeit, lange mit den Menschen zu sprechen. Viele wollen das auch gar nicht“, sagt der Zahnarzt. Aber er habe es gespürt, wie schlecht es den Menschen geht – auch bei den Kindern.

Einen Eindruck davon kann man etwa in einem Video sehen: Darin sieht man, wie ein Mädchen in einem Zelt kniet. Hinter ihm hängen Klamotten an einer Stange, zwei junge Männer sitzen in der Ecke und schauen auf ihr Handy. „Hallo mein Name ist Raua, ich komme aus Syrien. Ich bin 13 Jahre alt. Ich habe sieben Familienmi­tglieder. Wir müssen nach Deutschlan­d gehen. Hier ist es nicht gut, es gibt viele Probleme. Mein Vater ist krank, Herz und Zucker“, sagt sie auf Englisch. Sie atmet tief ein, ihre Hände liegen im Schoß, sie reibt sie aneinander. „Wir sind seit einem Jahr hier. Alles ist hier nicht gut.“Dann zeigt das Video eine Autofahrt über die Insel. Der Kontrast zwischen der schönen Landschaft und dem Elend im Camp wird deutlich. Das Video hat Ali gemacht und auf seinem InstagramP­rofil veröffentl­icht. Den Iraner hat Schlichten­horst während seiner Zeit auf Lesbos kennengele­rnt.

Viele Menschen haben einen langen Weg auf sich genommen und sitzen jetzt in dem Camp fest. Sie müssen ausharren. „Kein Wunder, dass sie sich wie Geiseln einer undurchsic­htigen Übermacht vorkommen“, protokolli­ert Schlichten­horst noch auf der Insel. „Sie werden die Zeit im Camp ganz sicher aus ihrem Lebenslauf tilgen wollen, als eine tote Zeit ohne Erinnerung­swert.“Für viele wird der Alptraum andauern. Denn: Oft leben die Menschen mehrere Monate oder sogar Jahre in den Camps.

 ?? FOTOS: CHRISTIAN FLEMMING/PRIVAT ?? Seit Ekkehard Schlichten­horst vor 13 Jahren den Ruhestand angetreten hat, hilft er dort, wo Menschen dringend zahnmedizi­nische Unterstütz­ung brauchen – meistens in Bolivien, jüngst aber auch auf der griechisch­en Insel Lesbos im Flüchtling­slager (Bild unten).
FOTOS: CHRISTIAN FLEMMING/PRIVAT Seit Ekkehard Schlichten­horst vor 13 Jahren den Ruhestand angetreten hat, hilft er dort, wo Menschen dringend zahnmedizi­nische Unterstütz­ung brauchen – meistens in Bolivien, jüngst aber auch auf der griechisch­en Insel Lesbos im Flüchtling­slager (Bild unten).
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