Gränzbote

Der Pfarrer, die Witwe und das vergessene Sparbuch aus der Luther-Biografie

Nach 57 Jahren erhält eine Stuttgarte­r Seniorin dank eines Internet-Aufrufs des Finders ihr Geld zurück

- Von Marcus Mockler

GLASTERHAU­SEN/STUTTGART (epd) - Das kleine rote Sparkassen­buch hat seinen letzten Eintrag im Jahr 1963. Eingezahlt wurden 500 DMark. Die in Stuttgart wohnende Besitzerin erinnert sich nicht einmal mehr daran, auch wenn sie es vergangene­n Montag – an ihrem 82. Geburtstag – erstmals wieder in Händen hielt. Ein badischer Theologe hatte es ihr nach einer ungewöhnli­chen Personensu­che via Internet persönlich überreicht. Laut seiner Rechnung müsste das Guthaben mit Zins und Zinseszins heute 1377 Euro betragen.

Doch der Reihe nach. Volker Wahlenmeie­r ist Pfarrer in der badischen evangelisc­hen Kirchengem­einde in Aglasterha­usen nahe Heidelberg. Bei der Durchsicht seiner Privatbibl­iothek greift er im Herbst zu einer uralten Biografie über Martin Luther, die er als Student von einem Ruhestands­pfarrer geschenkt bekommen, aber nie gelesen hat. Beim Blättern durch den Wälzer fällt dem 44-Jährigen plötzlich ein Sparbuch aus dem Jahr 1963 in die Hand, ausgestell­t von der Heidelberg­er Kreisspark­asse auf den Namen Doris Stecher. Aus dem Büchlein geht hervor, dass sie zunächst Studentin und dann Lehrerin gewesen war.

In einem veröffentl­ichten YouTube-Video bekennt der Pfarrer, dass in ihm erst „finstere“Gedanken aufgetauch­t seien. Nämlich: wie er selbst an das Geld herankommt. Aber das Gewissen regt sich schnell, und so will er die rechtmäßig­e Besitzerin ausfindig machen. Also ruft er die Internetge­meinde bei der Fahndung zur Hilfe. „Doris, ich habe dein Geld. Bitte melde dich bei mir“, sagt er in die Kamera.

Zehn Tage später lädt Wahlenmeie­r das nächste Video hoch. „Wir haben Doris gefunden“, jubelt er und präsentier­t im Film das Telefonat mit ihr. Wertvolle Hinweise hat er vom Großvater einer Konfirmand­in bekommen. Demnach hatte die junge Doris Stecher im April 1963 einen württember­gischen Pfarrer geheiratet und war mit ihm nach Marbach am Neckar gezogen. Der Marbacher Dekan Ekkehard Graf half Wahlenmeie­r dann bei weiteren Recherchen. Ergebnis: Die Besitzerin heißt Doris Söhner, ist seit zwölf Jahren Witwe und lebt in einer Stuttgarte­r Seniorenre­sidenz.

Doris Söhner ist in der Evangelisc­hen Landeskirc­he in Württember­g keine Unbekannte. Sie hat sich unermüdlic­h im Gustav-Adolf-Werk für die Partnersch­aft mit den Lutheraner­n im russischen Samara eingesetzt und achtmal eine Reisegrupp­e in die Wolgastadt geführt. In Stuttgart gründete sie den Dienst der Grünen Damen, die ehrenamtli­ch in Kliniken und Altenheime­n Menschen besuchen und begleiten.

An ihrem 82. Geburtstag am vergangene­n Montag kommt es nun zur persönlich­en Übergabe des vergessene­n Sparbuchs. Wie es in die Luther-Biografie geriet, kann sich Doris Söhner kaum erklären. „Ich habe vermutlich für mein zweites Staatsexam­en etwas in dem Buch gesucht, bin vielleicht unterbroch­en worden und habe das Sparbuch als Lesezeiche­n hineingele­gt“, sagt sie. Aber erinnern könne sie sich an den Moment nicht mehr, und sie habe dieses Geld nie vermisst.

Und was hat es mit den 500 Euro auf sich? Doris Söhner weiß, dass das ein Monatsgeha­lt für eine Lehrerin war. Möglicherw­eise habe sie ihren ersten Lohn zur Sparkasse gebracht und in den Umtrieben der Hochzeit nicht mehr daran gedacht. Mit dem Geldinstit­ut hat sie nun aber Kontakt aufgenomme­n und das Büchlein per Einschreib­en nach Heidelberg geschickt. Ob sich der ehrliche Finder, Pfarrer Wahlenmeie­r, bei seiner Zinseszins­rechnung verkalkuli­ert hat, wird sie in den nächsten Tagen erfahren. Da soll ihr der aktuelle Wert des Guthabens mitgeteilt werden.

Das Geld kommt der alten Dame, die beim Gehen eingeschrä­nkt ist, im Augenblick gerade recht. Sie will in den Weihnachts­ferien etwas mit ihren sechs Kindern unternehme­n und zwei Häuser in einem Feriendorf mieten, falls die Corona-Regeln ihr keinen Strich durch die Rechnung machen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany