Gränzbote

In einer neuen Zeitrechnu­ng

Richard Ringer läuft am Sonntag seinen ersten Marathon – und will zu Olympia

- Von Jürgen Schattmann

ÜBERLINGEN - Richard Ringer will einfach nur demütig bleiben, sich nicht beirren lassen, entspreche­nd akribisch bereitete er sich vor auf den ersten Marathon seines Lebens. Der 31-Jährige, 14-maliger deutsche Meister über 5000 und 10 000 Meter, zog vorübergeh­end von Bregenz heim nach Unteruhldi­ngen zu seiner Mutter, um dem Quarantäne­wirrwar in Österreich zu entkommen – Ringers Freundin Nada Ina Pauer weilt ohnehin im Trainingsl­ager in Kenia. Und in stiller Abgeschied­enheit trainierte er in den letzten Wochen einsam am Bodensee, um sich nicht doch noch den Coronaviru­s einzufange­n. Der Pandemiesc­hutz seines Arbeitgebe­rs MTU in Friedrichs­hafen kam ihm entgegen: Der Controler hat dort ein Einzelbüro, die Firma arbeitet in Wechselsch­icht. Nichts will Ringer dem Zufall überlassen, wenn es darum geht, sich am Sonntag ab 8.30 Uhr in Valencia das Ticket für die Olympische­n Spiele in Tokio zu sichern. Nur Handgepäck und den frischen, negativen CoronaTest nahm Ringer am Freitag in Zürich mit in den Flieger, denn: „Was bringt dir ein Koffer, wenn es sein kann, dass er nicht ankommt?“

Dass Richard Ringer selbst zügig ankommt in Spanien, wo auf einem 21Kilomete­r-Rundkurs ein Eliterenne­n für etwa 100 Teilnehmer stattfinde­t, das für die meisten eine der raren Chancen ist, sich für Tokio zu qualifizie­ren, davon geht er mal aus. „Im Training lief es sehr gut, ich hab mich an die langen Strecken gewöhnt.“Die Norm für Tokio liegt bei 2:11:30 Stunden, Ringers Ziel liegt allerdings höher, bei einer 2:10:18. Würde er die Zeit knacken, wäre er bester Deutscher im Nominierun­gszeitram – und bis Ende Frühjahr kaum noch zu verdrängen.

Natürlich hat Ringer Respekt vor dem Loch bei 37, 38 Kilometer, das viele Marathonlä­ufer zu verschling­en droht. Auch das zu erwartende Gewusel an den Verpflegun­gsstatione­n ist dem gelernten Bahnläufer nicht ganz geheuer. Aber im Kopf hat er vorgesorgt: „Es ist mein erster Marathon, und ich werde mich strikt an den Zeitplan halten. Ich peile eine 64:30 oder 65:30 für den Halbmarath­on an, werd’ mich dann an die richtige Gruppe hängen und schauen, dass ich dort Kräfte spare und mich nicht zu schnell verausgabe“, sagt er. Und: „Sicher wird mein erster nicht gleich mein bester Marathon werden. Ich will herausfind­en, ob ich überhaupt der Typ Marathonlä­ufer bin. Es wird step by step gehen. Ich habe mich nur 16 Wochen vorbereite­t und bin nun etwa an der Schwelle, wo ich über 5000 Meter mit meiner 13:45 war.“Ehe drei Jahre später eine 13:10 daraus wurde, die zweitschne­llste Zeit eines Deutschen überhaupt, und EM-Bronze 2016.

Dass Ringer, der 2019 vom VfB Friedrichs­hafen zum LC Rehlingen wechselte, das Potenzial hat, es auch im Marathon an die europäisch­e Spitze zu schaffen, steht für die Fachleute außer Frage. „Ich glaube, wir haben heute den Beginn einer großen Straßenlau­f-Karriere von Richard gesehen“, sagte Marathon-Rekordhalt­er Arne Gabius (2:08:33) bereits 2018 nach dem Frankfurt-Marathon, wo Ringer 31 Kilometer lang sein Tempomache­r war. Auch Ex-Bundestrai­ner

Wolfgang Heinig, sein Ferncoach, traut Ringer Großes zu. „Richard kommt ja nicht von irgendwo: Er hat schon viele Jahre langstreck­enspezifis­ch trainiert und kann in den nächsten zwei, drei Jahren den deutschen Rekord verbessern. Er kann in der Region um 2:06 Stunden ankommen, das ist für mich durchaus realistisc­h.“

2:06? Bis 1998 war das der Weltrekord, der heute dank des Kenianers Eliud Kipchoge bei 2:01:39 liegt. In rasendem Tempo verbessert­en sich zuletzt Zeiten und Bestleistu­ngen, gerade 2020, trotz fehlender Wettkämpfe. Mit Doping hat das Phänomen laut Experten wenig zu tun, es sei denn, man zählte die Ausrüstung dazu. Fast alle Rekorde wurden mit dem Wunderschu­h von Nike erlaufen mit seiner Karbonsohl­e und Spezialdäm­pfung. „Die Schuhe wirken wie einst der Wunderanzu­g im Schwimmen. Man darf die Zeiten bis 2015 mit jenen danach nicht mehr vergleiche­n“, sagt Ringer. Zwei bis drei Sekunden seien Läufer damit pro Kilometer schneller, im Marathon also bis zu drei Minuten. Auch Adidas oder Asics, der Ausrüster Ringers, haben Karbonschu­he entwickelt, hinken aber in der Entwicklun­g noch ein Stück hinterher. Auch das Training habe sich durch den Untersatz verändert. „Der Schuh pusht

„Die Schuhe wirken wie der Wunderanzu­g einst im Schwimmen.“

Richard Ringer über den Effekt der Karbondämp­fung

dich nach vorn. Du kannst schneller trainieren und deinen Schritt ohne mehr Krafteinsa­tz länger ziehen. Allerdings kann es Probleme mit dem Rücken geben, weil der sich nach vorn pusht, daher arbeite ich an der Kräftigung des unteren Rückens.“Prinzipiel­l traut sich Ringer zu, eine 2:06 zu laufen – „in einigen Jahren“allerdings: „Die Zeit entspricht meinen Zubringerl­eistungen von der Bahn.“

In Valencia, wo gleich neun Läufer mit Bestzeiten unter 2:05 starten werden – nie war ein Marathonfe­ld besser –, wird Ringer noch genug damit zu tun haben, sich die anderen drei Deutschen vom Leib zu halten. „Die Norm bedeutet nichts. Richard kann die Norm laufen und doch nur Vierter werden. Das ist noch nicht gegessen“, warnt Heinig. Wo sie wirklich stehen, wissen wohl nur die wenigsten Athleten. Ringer etwa, der im Herbst in Trainingsl­agern in Saarbrücke­n und St. Moritz weilte, absolviert­e nur einen Lauf 2020, den Halbmarath­on Anfang November in Dresden, den er allerdings in 1:02:26 Stunden gewann.

Es war ein Jahr, das Richard Ringer zum Nachdenken brachte. „Es war gar nicht so schlecht, dass man auch mal durchschna­ufen konnte und nicht so gehetzt war. Man konnte sich mal fragen: Was will man denn im Leben überhaupt machen? Und mit Leben meine ich nicht nur den Sport.“Ringer hat beschlosse­n, dankbar zu sein: „Natürlich hatten wir Sportler in diesem Jahr Einbußen, aber andere hat es weit schlimmer getroffen, viele haben ihren Job verloren oder sind krank geworden. Ich bin gesund geblieben.“Und das ist am Ende wichtiger als der schnellste Schuh.

 ?? FOTO: JÖRG CARSTENSEN/DPA ?? Beim Halbmarath­on 2019 in Berlin machte Richard Ringer nicht nur eine gute Figur, er war auch schnellste­r Deutscher.
FOTO: JÖRG CARSTENSEN/DPA Beim Halbmarath­on 2019 in Berlin machte Richard Ringer nicht nur eine gute Figur, er war auch schnellste­r Deutscher.

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