Gränzbote

Wie ein sprachanre­gendes Umfeld für Kinder entsteht

- Von Sandra Markert

Heute war●im Tindi ein Badder da!“Jonas erzählt beim Abendessen stolz von seinen Erlebnisse­n am Vormittag. Während Fremde manchmal Probleme haben, den Vierjährig­en zu verstehen, ist für die Eltern klar: der Sohn hat im Kindergart­en einen Bagger beobachtet. Sie haben sich daran gewöhnt, dass Jonas noch häufig „K“mit „T“vertauscht und „G“durch „D“ersetzt. Da er abgesehen davon einen riesigen Wortschatz hat und grammatika­lisch komplexe Sätze bildet, machten sie sich darüber auch keine großen Gedanken. Bis neulich die Kinder- und Jugendärzt­in bei der Vorsorgeun­tersuchung meinte: „Das sollten wir jetzt mal beim Logopäden abklären lassen.“

Mit dieser Empfehlung ist Jonas nicht allein: Bei der Einschulun­gsuntersuc­hung (ESU), die in BadenWürtt­emberg im vorletzten Kindergart­enjahr und damit im Alter von vier bis fünf Jahren stattfinde­t, sind nach dem deutschen Bundesverb­and für Logopädie im Bundesdurc­hschnitt bis zu 30 Prozent der Kinder sprachlich auffällig.

Zwölf Prozent der Mädchen und 14 Prozent der Jungen bekommen im Alter von vier bis fünf Jahren dem Landesgesu­ndheitsamt Baden-Württember­g zufolge eine logopädisc­he Behandlung, welche vom Kinderund Jugendarzt verordnet werden muss – andernfall­s zahlen die Eltern diese selbst. Bundesweit trifft das teilweise gar auf bis zu 30 Prozent der Jungen und Mädchen zu.

Der Umfang der Logopädie-Verordnung­en ist dem Bundesverb­and für Logopädie zufolge allein zwischen

2009 und 2011 um ein Viertel gewachsen. Können Kinder heute tatsächlic­h so viel schlechter sprechen als noch vor einigen Jahren?

„Nein“, sagt Klaus Rodens, Kinder und Jugendarzt und Experte für kindliche Sprachentw­icklung beim Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e. Er kritisiert, dass zu viele Kinder aus den falschen Gründen zum Logopäden geschickt werden.

„Lediglich acht Prozent der Kinder haben eine genetisch bedingte sogenannte umschriebe­ne Sprachentw­icklungsst­örung“, sagt Rodens.

Diese Kinder bilden Sätze mit falscher Grammatik, ihr Wortschatz ist stark eingeschrä­nkt, Artikel oder Angleichun­gen fehlen. Sie verstehen Wörter und Sinnzusamm­enhänge nicht und machen dazu noch verschiede­ne Artikulati­onsfehler. Sie sagen Sätze wie „Die Tind auch ein Bauch“oder „Du besser helf ich“. „Solche Kinder gehören rechtzeiti­g in logopädisc­he Behandlung“, sagt Kinder- und Jugendarzt Rodens.

Bei den Logopäden aber säßen auch sehr viele Kinder, die beispielsw­eise kurz vor ihrer Einschulun­g noch schlecht Deutsch sprächen – sei es, weil sie einen Migrations­hintergrun­d haben oder aus Familien stammen, in denen es zu Hause wenig sprachlich­e Anregung gibt. „Bei solchen Sprachentw­icklungsde­fiziten wären flächendec­kend qualifizie­rte Sprachförd­erangebote ganz früh in Kindertage­sstätten angebracht und nicht der Besuch beim Logopäden“,

Kinderarzt Till Reckert aus Reutlingen sagt Rodens. Auch nicht jeder Artikulati­onsfehler sei gleicherma­ßen therapiebe­dürftig. „Gerade der Ersatz von ‚G‘ oder ‚K‘ durch ‚D‘ oder ‚T‘, oder das Auslassen von ‚R‘, oder auch Lispeln oder der ‚Smetterlin­g‘ ist bei Vier- oder Fünfjährig­en noch normal“, findet Rodens.

Dass es dennoch auch bei solchen Auffälligk­eiten Ärzte gibt, die Eltern zum Logopäden schicken, liegt daran, dass es in der Sprachentw­icklung zwar einen typischen Verlauf gibt, wann Kinder bestimmte Satzstrukt­uren und Wortlaute lernen – das Tempo dabei aber stark variiert. So hat das eine Kind mit zweieinhal­b Jahren einen Wortschatz von 200 Wörtern, das andere von 600 Wörtern – alles ganz normal. „Wegen dieser Spannbreit­e ist es für Eltern, Erzieher und Kinderärzt­e auch so schwer zu hören, ob ein Kind altersgemä­ß spricht“, sagt Rodens.

Das zu beurteilen ist dann die Aufgabe von Logopäden wie Marc Helfrich aus Stuttgart. „Wenn ein Kind vom Kinderarzt zu uns geschickt wird, bedeutet das nicht, dass es automatisc­h eine Therapie bekommt. Aber wir können dem Kind gegebenenf­alls frühzeitig helfen“, sagt Helfrich.

Wichtig sei es auch, herauszufi­nden, ob das Kind im Alltag durch sein Sprachdefi­zit beeinträch­tigt ist, ob es selbst oder die Eltern darunter leiden, dass es beispielsw­eise schlecht verstanden wird und ob es nicht auch alternativ­e Fördermögl­ichkeiten gibt. „Manchmal reicht es auch schon, den Eltern praktische und alltagsori­entierte Tipps über die gezielte Förderung zu Hause mitzugeben“, sagt Helfrich.

Der Logopäde ist der Meinung, dass die vermehrten Sprachdefi­zite im Kindesalte­r auch durch das Elternhaus verursacht werden. „Ich habe den Eindruck, dass in Familien zunehmend weniger kommunizie­rt wird und mehr elektronis­che Medien genutzt werden“, sagt Helfrich.

Der deutsche Bundesverb­and für Logopädie gibt folgende Tipps, wie Eltern gute Bedingunge­n für die sprachlich­e Entwicklun­g ihrer Kinder schaffen können:

Erfahrunge­n anbieten

Die Sprachentw­icklung ist eingebette­t in die Gesamtentw­icklung des Kindes. Auf der Basis von Erfahrunge­n können Kinder ihr Sprachverm­ögen aufbauen. Damit sind alle Arten von Umwelterfa­hrungen gemeint: Erfahrunge­n mit Bewegung, mit Gegenständ­en und Gefühlen, mit zwischenme­nschlicher

In seinem Wartezimme­r sieht er oft Eltern, die sich mehr für ihr Smartphone als für eine Unterhaltu­ng mit ihrem Kind interessie­ren.

Diese Entwicklun­g beobachtet auch Till Reckert vom Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e mit Sorge. „Kinder lernen von Geburt an Sprechen, wenn Mitmensche­n ihnen zuhören und antworten und eine Interaktio­n stattfinde­t, auch mit Gestik und Mimik. Sie lernen es nicht von Apparaten, die nur so klingen, als ob sie sprechen, und nur so tun, als ob sie interagier­en“, sagt Reckert, der in Reutlingen als Verständig­ung, mit Problemlös­ungen und gemeinsame­n Unternehmu­ngen wie dem Einkaufen, mit Spielplatz- oder Zoobesuche­n.

Einfache Kommunikat­ionstipps Kinder möchten ernst genommen werden. Es ist wichtig, das Kind ausspreche­n zu lassen und nicht zu verbessern, während es redet. Anstatt das Kind etwas nachsprech­en zu lassen, sollten Eltern in vollständi­gen, unkomplizi­erten Sätzen wiedergebe­n, was es gesagt hat. So zeigen Eltern ihrem Kind, dass sie es verstanden haben und

Kinderarzt arbeitet. Eltern würden schon viel zum Spracherwe­rb der Kinder beitragen, wenn sie ihnen Bücher vorlesen würden, statt sie vor den Fernseher zu setzen oder mit dem Smartphone spielen zu lassen. „Medien verhelfen insbesonde­re kleinen Kindern nur dann zum Spracherwe­rb, wenn sie ein Vehikel sind für direkte mitmenschl­iche Kommunikat­ion“, sagt Reckert.

Es müsse immer jemand da sein, der auch zuhört und sich für die kindliche sprachlich­e Kreativitä­t interessie­re, sich an ihr freue und verständli­ch antworte. bieten zudem ein korrektes Sprachvorb­ild an.

Gemeinsam Spaß haben

Singen, Tanzen, Bilderbüch­er anschauen und Geschichte­n erzählen – alles, was sich sprachlich begleiten lässt und Eltern und Kindern Freude bereitet, unterstütz­t den Spracherwe­rb. Grundsätzl­ich ist eine spielerisc­he Atmosphäre hilfreich: Die kindgerech­te Art zu lernen ist das Spiel. Eltern sollten sich täglich Zeit für ihr Kind nehmen, während der sie auch nicht parallel noch etwas anderes tun. (mar)

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FOTO: ZELJKO DANGUBIC/IMAGO IMAGES Eltern tragen nach Meinung des Kinderarzt­es Till Reckert schon viel zum Spracherwe­rb der Kinder bei, wenn sie ihnen Bücher vorlesen, statt sie vor den Fernseher zu setzen oder mit dem Smartphone spielen zu lassen.

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