Gränzbote

Der Teddybär, der dem Tod von der Schippe sprang

Im letzten Moment wurde das Vancouver-Murmeltier in Kanada vor dem Aussterben gerettet – Auf dem Weg dahin gab es auch Rückschläg­e

- Von Roland Knauer vancouvere­nsis Marmota

Im Herbst 2003 läutete für das Vancouver-Murmeltier unüberhörb­ar das Totenglöck­chen. Seit jeher kam diese Art nur auf Vancouver Island vor. Die Insel ist fast so groß wie Nordrhein-Westfalen und liegt vor der Pazifik-Küste Kanadas, unmittelba­r vor der Metropole Vancouver. Dort aber lebten keine dreißig Tiere mehr – und das auch noch mit stark fallender Tendenz. Die Tage des seltensten und vielleicht schönsten Murmeltier­s der Welt, das ein wenig an einen schokolade­nbraunen Teddybären mit weißer Nase erinnert, schienen unwiderruf­lich zu Ende zu gehen.

An Aufgeben aber dachte niemand in der Murmeltier-RettungsSt­iftung (Marmot Recovery Foundation, www.marmots.org) in Nanaimo auf Vancouver Island. Zwar gab es von den hübschen Nagetieren in der Natur inzwischen nur noch so wenige Tiere, dass sie sich praktisch nicht mehr begegneten. Die Artenschüt­zer hatten in den Vorjahren aber einige Jungtiere gefangen, die jetzt in den Zoos von Toronto und Calgary lebten. Nur dachten diese von der schwarz-weißen Nase bis zur Schwanzspi­tze bis zu 70 Zentimeter langen und bis zu 7,5 Kilogramm schweren Tiere – in etwa die Größe einer sehr kräftigen Hauskatze – offensicht­lich an alles andere als an die Gründung einer Familie.

Dabei ging es den VancouverM­urmeltiere­n dort doch hervorrage­nd: Weit und breit waren keine Feinde in Sicht, die ihnen an den Pelz wollten, und die Pfleger brachten ihnen regelmäßig leckere Gräser und Kräuter. Genau dieses „All inclusive“-Leben aber war das Problem: Nur wenn die Murmeltier­e hungern, denken sie an Winterschl­af und ziehen sich in ihre selbst gegrabene Höhle zurück, die oft einen Meter unter der Erde liegt und die sie über einen bis zu fünf Meter langen Gang erreichen.

Wenn die Murmeltier­e im Mai nach mehr als einem halben Jahr Winterschl­af aufwachen, haben sie oft ein Drittel ihres Gewichts verloren. Statt Frühjahrsp­utz oder einem ersten Ausflug in die Frühlingss­onne, die den Schnee rasch wegschmilz­t, steht bei den VancouverM­urmeltiere­n jetzt erst mal etwas ganz anderes auf dem Programm: Männchen und Weibchen haben oft ohnehin schon gemeinsam in einer Höhle überwinter­t, da liegen Gedanken zur Familienpl­anung natürlich nicht fern. Und Ende Juni oder im Juli spähen denn drei oder vier schokolade­nbraune Jung-Murmeltier­e zum ersten Mal aus ihrer Geburtshöh­le in die Sommersonn­e.

Im Zoo aber bekamen die Murmeltier­e immer reichlich zu fressen – und dachten überhaupt nicht an Winterschl­af. „Damit fiel aber auch die Familiengr­ündung ins Wasser“, erklärt der Geschäftsf­ührer der Murmeltier-Rettungs-Stiftung Adam Taylor die Hintergrün­de des fehlenden Nachwuchse­s in Gefangensc­haft. „Also mussten die Tierpflege­r die unendlich wertvollen letzten Vertreter dieser Art am Hungertuch nagen lassen.“Danach fielen die

Murmeltier­e tatsächlic­h in den Winterschl­af und der Rest folgte den uralten Plänen der Natur.

Bald konnten die ersten JungMurmel­tiere in die Freiheit entlassen werden. Auch das endete aber nicht immer mit durchschla­genden Erfolgen. Ganz im Gegenteil wurde die erste Freisetzun­g zum Fiasko. Drei der vier Jungtiere landeten postwenden­d im Maul eines Pumas, das vierte fingen die Artenschüt­zer sicherheit­shalber wieder ein. Und die letzten Murmeltier­e in der Natur bei den Nanaimo Lakes westlich der gleichnami­gen Stadt und an den

Hängen an der Süd- und Westflanke des Mount Washington weiter im Norden von Vancouver Island warteten weiter auf die dringend benötigte Verstärkun­g.

Dort leben die Tiere praktisch immer auf Grashängen, über die häufig Lawinen donnern. Die können den Murmeltier­en in ihren Höhlen wenig anhaben, reißen aber junge Bäumchen und Sträucher mit in die Tiefe. Das sind ideale Voraussetz­ungen für die Bewohner der Grashänge, die im Wald viel zu wenig zu fressen finden. Um Inzucht zu vermeiden, wandern junge Murmeltier­e aus ihrer Heimat gern einige Kilometer weiter, bis sie auf einen anderen Grashang treffen, an dem sie eine neue Kolonie gründen oder sich einer bereits bestehende­n anschließe­n können. Seit allerdings die Holzfäller in den tieferen Lagen große Kahlschläg­e in den Wald gerodet haben, entdecken die Auswandere­r immer wieder solche künstliche­n Lichtungen und damit eine anscheinen­d ideale neue Heimat. Nur fehlen dort die Lawinen, bald überwucher­n junge Bäume und Sträucher die Lichtung. Während auf natürliche­n Grashängen immer wieder Felsblöcke aus dem Grün ragen, auf denen die Murmeltier­e Wache mit gutem Rundumblic­k halten können, bieten die jungen Bäume und Sträucher ideale Deckung für Räuber. „Die aber nutzen solche Angebote aus und können die neue Kolonie rasch auslöschen“, erklärt Taylor.

Nach dem Puma-Fiasko setzten die Artenschüt­zer die Nachkommen der Zoo-Murmeltier­e daher bei deren letzten Artgenosse­n aus, die in den Bergen von Vancouver Island noch auf natürliche­n Grashängen ausharrten. Diesmal klappte alles hervorrage­nd, vor allem die Kolonie am Mount Washington florierte. Gleich daneben liegt der riesige Strathcona Provincial Park, ein Naturschut­zgebiet, das fast so groß wie das Saarland ist. Dort gab es noch etliche Grashänge, von denen die Murmeltier­e längst verschwund­en waren. „Als wir dort neue Kolonien gründen wollten, erlebten wir unseren nächsten schweren Rückschlag“, erinnert sich Taylor. Kaum eines der Tiere überlebte. Anscheinen­d waren die Murmeltier­e an das Leben in der Natur einfach nicht mehr gewöhnt. „Im Zoo hatten sie zum Beispiel nie gelernt, dass ein Weißkopfse­eadler eine tödliche Gefahr ist, wenn er sich vom Himmel auf seine Beute stürzt“, erklärt Taylor eines der Probleme.

„Die nächste Generation schickten wir daher erst einmal in die Murmeltier-Schule“, berichtet der Artenschüt­zer weiter: Die unerfahren­en Youngsters lebten ein Jahr lang in der Kolonie am Mount Washington. Dort lernten sie von ihren Artgenosse­n, wie man sich vor Weißkopfse­eadlern, Pumas und anderen Feinden schützt, wie man seine Höhle für den Winterschl­af gemütlich einrichtet und viele weitere nützliche Dinge aus dem Alltag eines Murmeltier­s.

Die inzwischen recht gewieften Tiere wurden dann wieder eingefange­n und im nahen Strathcona-Park in die Natur entlassen. „Diesmal mit gutem Erfolg und sechs- bis siebenmal höheren Überlebens­raten als bei den unerfahren­en Tieren“, freut sich Taylor.

Auch wenn inzwischen wieder gut 200 Vancouver-Murmeltier­e in der Natur leben, sind sie noch längst nicht über den Berg: „Inzwischen wachsen durch den Klimawande­l vielerorts Bäume, die es an der gleichen Stelle vor 20 Jahren noch nicht gab“, beobachtet Alan Taylor. Dadurch aber steigen die Chancen der Räuber und die der Murmeltier­e sinken. Weniger Sorgen bereitet dagegen das Erbgut der Tiere. Gibt es von einer Art wie bei den Murmeltier­en nur noch sehr wenige Individuen, geht oft ein Teil der dort vorhandene­n genetische­n Vielfalt verloren.

Auch wenn eine Art dem Aussterbet­od von der Schippe springt, kann dieser Verlust ihr mittelfris­tig noch zum Verhängnis werden. „Im Grunde genügt ja ein einziges Paar, um eine Art vor dem Aussterben zu retten“, erklärt Arne Ludwig vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierfo­rschung (IZW) in Berlin. Das haben die Wisente gezeigt: Alle heute lebenden mehr als 3000 Tiere stammen von drei Vorfahren ab.

Daher haben die Wisente einen großen Teil ihrer einstigen genetische­n Vielfalt verloren. Das kann sich besonders beim Immunsyste­m auswirken, das den Körper normalerwe­ise mit einer großen Vielfalt von Abwehrzell­en gegen ein Heer von gefährlich­en Erregern wappnet. Fehlt ein großer Teil dieser Vielfalt, ist demnach die Körperabwe­hr geschwächt. Genau mit diesem Problem kämpfen die Wisentbull­en, deren Geschlecht­sorgane sehr häufig von gefährlich­en Bakterien befallen werden. Diese Infektione­n können die Wisente nicht nur unfruchtba­r machen, sondern auch töten.

Bei den Vancouver-Murmeltier­en ist diese Gefahr allerdings erheblich kleiner: „Wir setzen die Paare so zusammen, dass langfristi­g möglichst die gesamte Vielfalt erhalten bleibt und haben tatsächlic­h bisher keine genetische­n Verluste beobachtet“, erklärt Taylor. Die Chancen der schokolade­nbraunen Teddybären namens Vancouver-Murmeltier scheinen also recht gut zu stehen.

Adam Taylor, Geschäftsf­ührer der Murmeltier-Rettungs-Stiftung

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany