Ein halbes Jahrhundert danach
Die polnische Propaganda verheimlichte vor 50 Jahren die Bilder des Willy-Brandt-Kniefalls
Das Bild ging um die Welt: Vor 50 Jahren, am 7. Dezember 1970, kniete Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau vor dem Mahnmal im einstigen jüdischen Ghetto, das den Helden des Aufstandes vom April 1943 gewidmet ist (Archivfoto: dpa). Die Geste stellte alles in den Schatten, was je über die deutsche Schuld und die Sühne für die NaziGräuel gesagt wurde - und wirkt bis heute nach. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte nun die Bedeutung der deutschpolnischen Partnerschaft für eine erfolgreiche Zukunft. „Aber wir werden auch die Vergangenheit nicht vergessen. Nicht das Leid der Menschen in Polen, nicht den historischen Mut zur Versöhnung und auch nicht einen Kniefall, der uns an all das erinnert“, sagte er. In Polen selbst wurde das Foto übrigens über Jahre nicht gezeigt.
Als Bundeskanzler Willy Brandt am Morgen des 7. Dezember 1970 in die polnische Regierungslimousine steigt, tut er das „im Gefühl, die Besonderheit des Gedenkens am Ghettomonument zum Ausdruck bringen zu müssen“. So notiert er es später in seinen Erinnerungen. Im protokollarisch festgelegten Tagesablauf sind nur zwei Kranzniederlegungen und die Unterzeichnung des „Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen“vorgesehen, mit dem Deutschland die Oder-Neiße-Linie faktisch als Westgrenze Polens anerkennt. Dass Brandt einige Stunden später am Denkmal der Helden des Ghettoaufstandes knien würde, weiß Brandt da noch nicht.
Das Bild wurde zu einer Ikone, zum bis heute stärksten Symbol des Versöhnungsprozesses zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Kriegsgegnern. An diesem Montag jährt sich der Kniefall zum 50. Mal – den die polnische Propaganda in der damaligen Berichterstattung zensierte.
Bevor es zu diesem ikonischen Moment an jenem Dezembertag kommt, macht Kanzler Brandt sich zunächst auf der Fahrt ins Zentrum Warschaus ein erstes Bild von der Stadt. Die deutschen Besatzer hatten Warschau in drei Wohnbezirke eingeteilt. Zuerst fährt Brandt durch den ehemaligen deutschen Wohnbezirk mit SS-Kasernen, Polizei- und Gestapo-Zentrale. Dort war fast nichts zerstört worden. Dann fährt die Staatskarosse durch den ehemaligen polnischen Wohnbezirk in der Innenstadt mit den zerstörten und wiederaufgebauten Prachtstraßen, um schließlich in den ehemaligen jüdischen Wohnbezirk einzubiegen. Dort stehen 1970 noch immer Ruinen zwischen hässlichen Neubauten.
Vor dem Denkmal warten zahlreiche Fotoreporter und etliche Neugierige auf den deutschen Kanzler. Als Brandt, der Minuten zuvor am Grabmal des unbekannten Soldaten einen Kranz niedergelegt hatte, an der Zamenhof-Straße aussteigt, zeigt sich ihm die ungeheure Leere des riesigen Platzes. Vor dem Krieg lebten in der Millionenstadt Warschau über 350 000 Jüdinnen und Juden. Es war nach New York die zweitgrößte jüdische Gemeinschaft weltweit.
Ein Soldat trägt den Kranz die Stufen zum Denkmal hinauf. Die Tafel unter den Bronzefiguren kann Brandt nicht lesen, denn die Aufschrift ist in Polnisch, Jiddisch und Hebräisch verfasst. „Das jüdische Volk – seinen Kämpfern und Märtyrern“steht dort. Als Brandt die Schleife am Kranz zurechtrückt, tritt er ein paar Schritte zurück und sinkt auf der untersten Stufe des Denkmals auf die Knie. Er legt die Hände zum Gedenken zusammen und senkt den Blick. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich das, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“, schreibt er später in seinen Erinnerungen.
„Dass Brandt spontan vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettoaufstandes niederkniete, hat mich damals tief berührt“, sagt Marian Turski. „Eigentlich sollte der deutsche Kanzler dort nur einen Kranz niederlegen“, erklärt der heute 94-jährige Holocaust-Überlebende. „Doch dann ging Brandt symbolisch vor den Millionen jüdischer Opfer der Nazis in die Knie und bat stumm um Vergebung.“In der Redaktion der „Polityka“, für die der Journalist bis heute arbeitet, habe man heftig über diesen ersten Besuch eines westdeutschen Kanzlers nach Kriegsende diskutiert.
Doch diese Versöhnungsgeste sei in Polen ohne jeden Nachhall verpufft. Die meisten Polen hätten nie davon erfahren. Die Zensur gab das Bilderverbot „Kein kniender Kanzler!“heraus, in den Medien seien Turski zufolge nur kurze Artikel erschienen. „Der Besuch Brandts war kein Thema mehr“, erklärt er.
Aleksander Kwasniewski, Polens Präsident in den Jahren 1995 bis 2005, war damals 16 Jahre alt. „Ich kann mich ganz genau an den Besuch von Willy Brandt erinnern“, erzählt er. „Denn damals lebte ich noch mit meinen Eltern in Białogard, dem früher deutschen Belgard in Westpommern. Wir hatten große Angst, dass die Deutschen eines Tages zurückkommen und uns aus unserer neuen Heimat vertreiben könnten.“Die Familie hörte regelmäßig Radio Free Europe und war nicht angewiesen auf die zensierte Parteipresse.
Für sie sei der Vertrag über die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als neue Westgrenze Polens am wichtigsten gewesen. „Dann kam die Nachricht vom Kniefall Brandts in Warschau. Das war schon sehr spektakulär und emotional“, sagt der heute 66-Jährige. Denn zumindest in seiner Familie hätten alle gewusst, dass Brandt Antifaschist war und den Krieg im Widerstand in Norwegen und Schweden verbrachte, ihn persönlich also keine Schuld traf. „Er musste nicht knien“, so Kwasniewski heute. „Um so bedeutsamer schien uns die Geste, allerdings hatten wir damals den Eindruck, dass Brandt uns alle um Vergebung bitten wollte
– Polen, Juden, Europäer – für das gesamte Leid, das die Deutschen den Menschen im Zweiten Weltkrieg angetan hatten.“
Die Diskussion darüber, wen Brandt 1970 in Warschau um Vergebung gebeten hatte, kam erst nach der politischen Wende 1989 auf. Insbesondere Polens katholische Kirche sieht die Geste gern in der Nachfolge des Bischofsbriefwechsels von 1965. „Wir vergeben und bitten um Vergebung“, schrieb das Episkopat in seinem Einladungsbrief zur 1966 stattfinden 1000-Jahr-Feier der katholischen Kirche Polens an die deutschen Bischöfe. Im Kniefall Willy Brandts erkannte Primas Stefan Kardinal Wyszynski die von ihm ersehnte Antwort auf den Brief, ausgeführt zwar von einem protestantisch geprägten Sozialdemokraten, aber doch im christlichen Geiste der Versöhnung.
Die kommunistische Partei war empört über das außenpolitisch bedeutsame Vorpreschen der Geistlichen.
Denn in der offiziellen Propaganda musste Westdeutschland als Hauptfeind Polens herhalten, der angeblich nur auf den richtigen Augenblick wartete, um Polen erneut zu überfallen und die ehemaligen deutschen Ostgebiete an sich zu reißen. Die Partei warf Polens katholischen Bischöfen daher Landesverrat vor.
Der Platz, auf dem Willy Brandt den Anstoß gab für derartige Diskussionen, sieht heute völlig anders aus. In seiner Mitte erhebt sich das preisgekrönte Geschichtsmuseum der polnischen Juden. Davor steht nach wie vor zentral das Denkmal des Warschauer Ghettoaufstandes, das an die Helden gedenkt, die sich am 19. April 1943 mit selbst gebauten Molotowcocktails, Granaten und Pistolen gegen die Nazis zur Wehr setzten. Hinter dem Museum auf dem kleinen Willy-Brandt-Platz steht ein kleines Denkmal aus roten Ziegelsteinen und einer Bronzetafel, das seit dem Jahr 2000 an den Kniefall erinnert.
Dieses hält das Gedenken daran in Polen aufrecht. „Wenn mein Vater mir das Denkmal nicht gezeigt hätte, wüsste ich wahrscheinlich bis heute nichts vom Kniefall Willy Brandts“, sagt Miriam Bartosik, die bis vor Kurzem die jüdische Lauder-MorashaSchule in Warschau besuchte. „Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in der Schule über die Geste Brandts gesprochen hätten“, sagt die 18-Jährige. „Auch ein Foto habe ich nie gesehen. Gut, dass es das Denkmal gibt, auf dem der kniende Brandt und die Menora zu sehen sind.“
Auch die Germanistin und Warschau-Stadtführerin Anita Borkowska kann sich an keine Schulstunde über Versöhnungsbitten oder -gesten von deutschen Politikern erinnern. „Wenn ich heute polnischen Gruppen Warschau zeige und manchmal auch das Brandt-Denkmal, sind immer alle ganz erstaunt – über das Denkmal, über den Platz und auch über die Geste Willy Brandts“, erzählt die 34-Jährige.
Krzysztof Ruchniewicz, Direktor des Willy-Brandt-Zentrums in Wroclaw, organisiert zwar ein Symposium zum Thema, weist aber auch darauf hin, dass der Jahrestag offiziell nur auf Staatssekretärs-Ebene stattfindet. „Und wenn man hört, wie Politiker der regierenden Nationalpopulisten heute über die Deutschen herziehen“, so der 53-Jährige, „kann man sich fast in die Zeit der Volksrepublik und ihrer Propaganda zurückversetzt fühlen. Versöhnung sieht dann doch etwas anders aus.“