Verfassungsschutz beobachtet Querdenker
Baden-Württemberg prescht vor – Innenminister Strobl für Verbot der Reichsfahne
STUTTGART - Als erstes Landesamt beobachtet der baden-württembergische Verfassungsschutz die Organisation „Querdenken 711“und ihre Ableger im Südwesten. „Querdenken richtet sich gegen die freiheitliche Grundordnung“, sagte Innenminister Thomas Strobl (CDU) am Mittwoch in Stuttgart. Dies sei eine Tatsache und keine Vermutung.
Im Blick habe der Verfassungsschutz die Querdenken-Bewegung, die ihren Ursprung im Protest gegen Corona-Maßnahmen hat, seit Beginn der Pandemie, erklärt Verfassungsschutzpräsidentin Beate Bube im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“. Unter den Organisatoren und Teilnehmern seien verstärkt Rechtsextremisten und „Reichsbürger“. „Wir sehen in den letzten Monaten eine zunehmende Radikalisierung und Zuspitzung der Situation.“Deshalb seien das Organisationsteam und weitere Akteure förmlich als Beobachtungsobjekt eingestuft. Die Behörde kann nun observieren, das Internet überwachen und V-Leute einsetzen. Querdenken-Gründer Michael Ballweg zeigte sich empört. Es seien nur „allgemeine, völlig substanzlose Gerüchte und Anschuldigungen“vorgebracht worden. Baden-Württembergs Antisemitismusbeauftragter Michael Blume begrüßte hingegen den Schritt. „Schon seit Frühjahr warne ich vor antisemitischen und antidemokratischen Tendenzen in dieser Bewegung“, sagte er der „Schwäbischen Zeitung“.
Bayern sollte sich an Baden-Württemberg ein Vorbild nehmen, mahnte Ludwig Spaenle (CSU), der Antisemitismusbeauftragte des Freistaats. Innenminister Joachim Herrmann (CSU) zeigte sich offen für eine Neubewertung der Querdenken-Bewegung und eine mögliche Beobachtung durch den Verfassungsschutz.
Südwest-Innenminister Strobl will zudem gegen Reichsfahne und Reichskriegsflagge vorgehen, die Rechtsextreme als Symbol nutzen. Strobl drängt auf ein bundesweites Verbot und wirbt bei der an diesem Donnerstag startenden Innenministerkonferenz unter den Kollegen um Unterstützung. „Ein solches Verbot wäre ohne jeden Zweifel sinnvoll“, sagte Strobl der „Schwäbischen Zeitung“.
STUTTGART - Das Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg beobachtet als erstes in Deutschland die Querdenken-Bewegung. Dies begründet Beate Bube, Präsidentin des Amtes, damit, dass bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen zunehmend legitime Kritik am Regierungshandeln „mit extremistischen, verschwörungsideologischen und antisemitischen Inhalten“vermischt werde. Insgesamt stelle sich die Gefährdungslage durch Extremismus und Terrorismus derzeit „um einiges drastischer dar als noch vor gut zehn Jahren“, sagte Bube im Gespräch mit Theresa Gnann.
Bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen stehen Bürger, die gegen Grundrechtsbeschränkungen protestieren, neben Rechtsextremisten und Anhängern von Verschwörungsmythen. Was löst dieser Anblick in Ihnen aus?
Wir verfolgen die Querdenken-Bewegung seit Beginn der Corona-Pandemie und beobachten mit zunehmender Sorge, dass sich bei diesen Demonstrationen, sowohl unter den Teilnehmern als auch bei den Organisatoren, zunehmend Rechtsextremisten und Menschen aus der „Reichsbürger“-Szene tummeln. Wir sehen in den letzten Monaten eine zunehmende Radikalisierung und Zuspitzung der Situation, die nun dazu geführt hat, dass wir die verantwortlichen Akteure – sozusagen das Organisationsteam und wer diesen Strukturen zugerechnet werden kann – förmlich als Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes in BadenWürttemberg einstufen. Dabei betone ich, dass wir selbstverständlich nicht alle Bürgerinnen und Bürger beobachten, die von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind für eine Demokratie bedeutende Grundrechte, und natürlich ruft auch Protest gegen Regierungshandeln nicht den Verfassungsschutz auf den Plan.
Was hat den Ausschlag gegeben, dass die Querdenken-Bewegung jetzt als verfassungsfeindlich eingestuft wird?
Der Verfassungsschutz kommt seiner Rolle als Frühwarnsystem der freiheitlich demokratischen Grundordnung nach. Und dieses Frühwarnsystem hat bei Querdenken hörbar angeschlagen. Denn hier werden gezielt extremistische, verschwörungsideolage logische und antisemitische Inhalte mit einer legitim formulierten Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie vermischt. Dabei sind verstärkt auch Anleihen an die ursprünglich aus den USA stammende antisemitische und staatsfeindliche Verschwörungsideologie QAnon festzustellen. Das betrifft sowohl die Präsenz von wahrnehmbaren QAnon-Codes bei Versammlungen als auch Äußerungen des Querdenken-Führungspersonals. Extremistische Verschwörungsmythen können der Nährboden für Gewalthandlungen sein – etwa, wenn zum Widerstand gegen vermeintliches Unrecht aufgerufen wird. Das halten wir für hochgefährlich. Mehrere maßgebliche Akteure der Querdenken-Bewegung ordnen wir dem Milieu der „Reichsbürger“und „Selbstverwalter“zu, die die Existenz der Bundesrepublik leugnen und demokratische und rechtsstaatliche Strukturen negieren. Hinzu kommt die bewusste, überregionale Zusammenarbeit mit anderen bekannten extremistischen Akteuren aus dem Milieu der „Reichsbürger“und „Selbstverwalter“sowie aus dem Rechtsextremismus, die sich in jüngerer Zeit weiter verfestigt hat. Diese Erkenntnisse des Verfassungsschutzes stehen in deutlichem Widerspruch zu offiziellen Verlautbarungen von „Querdenken 711“, sich von Extremismus jeglicher Art zu distanzieren.
Sie sind seit fast 13 Jahren Präsidentin des Landesamtes für Verfassungsschutz. Wie haben sich die Bedrohungen in den vergangenen Jahren verändert?
Insgesamt hat sich die Gefährdungsdurch Extremismus und Terrorismus nicht entspannt, sondern stellt sich um einiges drastischer dar als noch vor gut zehn Jahren. Man könnte sagen, der Extremismus hat Hochkonjunktur. Das betrifft zum Beispiel den Bereich des islamistischen Extremismus und Terrorismus. Hier gab es im Bereich der salafistischen Szene eine starke Zunahme. Vor einigen Jahren haben wir hier noch wenige Hundert Personen beobachtet, jetzt liegen wir bei 1200 Anhängern in Baden-Württemberg. Auch die terroristische Gefährdungslage hat sich in Europa, Deutschland und damit auch in Baden-Württemberg erhöht. Im Bereich des Rechtsextremismus gibt es Beobachtungsfelder, die vor zehn Jahren noch keine große Rolle gespielt haben. Dazu gehört zum Beispiel die wachsende Islamfeindlichkeit wie beispielsweise die Identitäre Bewegung. Auch der gesamte Komplex der „Reichsbürger“und „Selbstverwalter“wird erst seit Ende 2016 vom Verfassungsschutz beobachtet. Dazu kommen die Beobachtungsbereiche, die es schon immer gab. Dazu zählt der gewaltorientierte Linksextremismus, wo zumindest regional eine steigende Militanz festzustellen ist.
Europa erlebt derzeit eine ganze Reihe islamistischer Anschläge. Nutzen Islamisten bewusst die Pandemie als Chance, ohnehin geschwächte Staaten zu treffen?
Ich würde hier weniger den Zusammenhang mit der Pandemie als ausschlaggebenden kausalen Faktor sehen. Angesichts der Geschehnisse in Frankreich, Wien und Dresden wird medial wieder stärker auf den islamistischen Terrorismus geschaut.
Wir als Verfassungsschutz haben ihn aber nie aus dem Blick verloren. Auch nicht, nachdem der „Islamische Staat“als geografisches Gebilde zerschlagen war. Natürlich wissen wir, dass dschihadistisches Gedankengut nach wie vor vorhanden ist und dass es auch in Baden-Württemberg Personen gibt, denen man religiös motivierte Gewalttaten zutraut. Wir haben es hier oft mit radikalisierten Einzeltätern zu tun, die ihre Vorhaben nicht immer im Vorfeld ankündigen. Das im Blick zu behalten und alle Entwicklungen mitzubekommen, ist eine große Herausforderung.
Gibt es konkrete Hinweise auf Anschlagsszenarien?
Die Bedrohungslage im Islamismus ist keineswegs verschwunden gewesen, sie hat sich aber durch die aktuelle Debatte um die Mohammed-Karikaturen wieder verschärft. Die Gewalttaten in Frankreich, Österreich und Deutschland zeigen das und könnten auch Nachahmer zu Anschlägen animieren. Die Sicherheitsbehörden sind wachsam.
Neben dem Extremismus gehört auch die Spionageabwehr zu den Arbeitsbereichen des Verfassungsschutzes. „Spionage in Deutschland hat ein Level erreicht, wie wir es seit dem Kalten Krieg nicht mehr gesehen haben“, sagte Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, vor einigen Monaten. Stimmen Sie der Aussage zu?
Auf jeden Fall. Es gibt Umfragen, wonach im Jahr 2019 mindestens drei Viertel aller Unternehmen Opfer von Cyberangriffen waren. Drei Jahre zuvor waren es noch 40 Prozent. Wir selbst haben in den letzten Jahren eine dreistellige Zahl von Cyberangriffen bearbeitet, die von fremden Staaten ausgegangen sind, die also einen mutmaßlich nachrichtendienstlichen Hintergrund haben. Diese Angriffe haben oft das Ziel, sensible Informationen von Unternehmen oder aus der Wissenschaft zu generieren. Hier sind primär Branchen wie die Energiebranche, Fahrzeugbau, Luft- und Raumfahrttechnik im Fokus. Aber auch Sabotage kann ein Ziel sein, um Angst und Schrecken zu verbreiten und Chaos zu stiften. Ein Sabotageangriff, der zum Beispiel die gesamte IT in einem Krankenhaus oder bei einem Energieversorger lahmlegt, ist ein sehr bedrohliches Szenario.
Nehmen Sie in diesem Zusammenhang momentan verstärkt Angriffe wahr, die sich zum Beispiel mit der Entwicklung von Impfstoffen gegen das Coronavirus oder sonstigen Innovationen zur Pandemiebekämpfung beschäftigen?
Forschungsintensive medizintechnische Unternehmen sind grundsätzlich einer höheren Gefahr ausgesetzt, Opfer von Cyberspionage zu werden. Wenn ein bestimmtes Forschungsziel von weltweit hohem Interesse ist, wie es aktuell ja zum Beispiel mit dem Impfstoff der Fall ist, ist das natürlich immer ein mögliches Angriffsziel, um den internationalen Wettlauf zu gewinnen.