Von wegen Idylle
Für viele Urlauber auf dem Weg in den Süden ist er nur eine Kuriosität am Straßenrand: der Glockenturm, der stumm und einsam aus dem Wasser des Stausees am Reschenpass ragt. Kaum einer der eiligen Reisenden verschwendet wohl einen Gedanken an die Menschen, die vor noch nicht allzu langer Zeit in den Vinschgauer Dörfern gelebt haben, deren Reste heute unter Wasser liegen. Marco Balzano holt ihre Geschichte ans Tageslicht. In seinem Roman „Ich bleibe hier“erzählt er aus der Perspektive von Trina, seiner Hauptfigur, vom lebenslangen Kampf um die Heimat in Bergdörfern wie Graun, die einst zur k. u. k. Monarchie gehörten. Trina, eine junge Lehrerin, heiratet Erich, einen Bauern aus dem Dorf. Beide beginnen zäh Widerstand zu leisten – zuerst gegen Mussolinis Faschisten, die in den 1920er-Jahren mit Gewalt versuchen, die Menschen zu italianisieren. Später gegen die Nazis. Sie gehören zu den „Dableibern“im Dorf, die nicht wie die „Optanten“nach Hitler-Deutschland auswandern. Dennoch verlieren sie ihre Heimat, als in den 1950er-Jahren trotz aller Proteste der lange geplante Staudamm gebaut wird und ihr Dorf im wahrsten Sinne des Wortes untergeht – und mit ihm eine ganze Welt.
Von Bergidylle ist im Roman des italienischen Autors keine Spur, was dem Lesegenuss keinen Abbruch tut. Nach der Lektüre wird man ihn sicher mit anderen Augen sehen, den Kirchturm von Alt-Graun.
Marco Balzano: Ich bleibe hier. Diogenes Verlag, 2020. 288 Seiten, 22 Euro.