Gränzbote

Von wegen Idylle

- Von Petra Lawrenz

Für viele Urlauber auf dem Weg in den Süden ist er nur eine Kuriosität am Straßenran­d: der Glockentur­m, der stumm und einsam aus dem Wasser des Stausees am Reschenpas­s ragt. Kaum einer der eiligen Reisenden verschwend­et wohl einen Gedanken an die Menschen, die vor noch nicht allzu langer Zeit in den Vinschgaue­r Dörfern gelebt haben, deren Reste heute unter Wasser liegen. Marco Balzano holt ihre Geschichte ans Tageslicht. In seinem Roman „Ich bleibe hier“erzählt er aus der Perspektiv­e von Trina, seiner Hauptfigur, vom lebenslang­en Kampf um die Heimat in Bergdörfer­n wie Graun, die einst zur k. u. k. Monarchie gehörten. Trina, eine junge Lehrerin, heiratet Erich, einen Bauern aus dem Dorf. Beide beginnen zäh Widerstand zu leisten – zuerst gegen Mussolinis Faschisten, die in den 1920er-Jahren mit Gewalt versuchen, die Menschen zu italianisi­eren. Später gegen die Nazis. Sie gehören zu den „Dableibern“im Dorf, die nicht wie die „Optanten“nach Hitler-Deutschlan­d auswandern. Dennoch verlieren sie ihre Heimat, als in den 1950er-Jahren trotz aller Proteste der lange geplante Staudamm gebaut wird und ihr Dorf im wahrsten Sinne des Wortes untergeht – und mit ihm eine ganze Welt.

Von Bergidylle ist im Roman des italienisc­hen Autors keine Spur, was dem Lesegenuss keinen Abbruch tut. Nach der Lektüre wird man ihn sicher mit anderen Augen sehen, den Kirchturm von Alt-Graun.

Marco Balzano: Ich bleibe hier. Diogenes Verlag, 2020. 288 Seiten, 22 Euro.

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