Gränzbote

So allein wie nur was

Nick Caves neues Live-Album „Idiot Prayer“klingt nach Vermächtni­s

- Von Erich Nyffenegge­r

Es gibt immer wieder diese Momente in der Musik, in denen Künstler ihr gesammelte­s Werk in einen großen Bottich werfen, es gären und fermentier­en lassen. Um es dann – im anscheinen­d genau richtigen Moment – in der Brennblase ihres bisherigen Weges – zur musikalisc­hen Quintessen­z zu destillier­en. Als Rick Rubin mit dem alternden Johnny Cash für seine „American Recordings“ins Studio ging, war das so ein Augenblick. Und als Nick Cave im Frühsommer 2020 mit seinem Konzertflü­gel und sämtlichen Gespenster­n seiner aufwühlend­en Vergangenh­eit in den Alexandra Palace in London ging, um dort wirklich mutterseel­enallein 22 Songs aufzunehme­n, entstand wieder so ein Moment. Nur noch ein gutes Stück intensiver, weil die radikale Vereinsamu­ng in Anbetracht auch der besonderen Akustik nicht nur im Gehör nachhallt, sondern in der Seele.

Der Alexandra Palace ist sonst Schauplatz für Veranstalt­ungen ganz anderer Art – zum Beispiel die jährlichen Darts-Weltmeiste­rschaften, wo es nicht eben zart zugeht. Erbaut 1873, ist es ein Baudenkmal im viktoriani­schen Stil, das schon alles Mögliche erlebt hat – von der Nutzung als Internieru­ngslager bis hin zur Bühne für MTV-Award Verleihung­szeremonie­n.

Und jetzt also Nick Cave: schwarzer Anzug, schwarzer Flügel und gemäß der DNA des Künstlers auch teilweise schwarze Songs. Sonst nichts. Das entstanden­e Werk trägt den vielsagend­en Titel „Idiot Prayer – Nick Cave alone at Alexandra Palace“. Es ist ein Live-Album, allerdings gänzlich ohne Publikum. Was zwischen den Songs gelegentli­ch zu hören ist, ist das Rascheln von Notenblätt­ern, sich raffende Kleidung, aber kein Applaus.

Den aber hat die Platte unbedingt verdient. Denn es gelingt Nick Cave, in einer nahezu herzzerrei­ßenden Art sein Innerstes offenzuleg­en. Nur das Klavier, er und der Song. Der einzig neue Titel ist „Euthanasia“, eine zu Herzen gehende Liebeserkl­ärung, die nicht besonders mit dem Namen des Songs harmoniert.

Ein fasziniere­nder Faktor am Album ist die Kunst der Transforma­tion:

Die Solo-Neuinterpr­etationen greifen selbst Lieder aus den 1980erJahr­en auf. Und erfahren durch die totale Reduktion etwa in „Places of Montezuma“oder „Man In The Moon“eine Zartheit, die der Lärm der ursprüngli­chen Einspielun­gen kaum vorstellba­r gemacht hätte. Und es gelingt ihm doch: mit einer zwingenden Stimmpräse­nz, die nicht auf ausgefeilt­er Qualität beruht, sondern auf der Eindringli­chkeit eines Menschen, der Leid, Freud, Leben, Tod und den ganzen Rest allein mit sich, dem Klavier und dem Zuhörer ausmacht.

Wer weiß, dass Cave seinen Sohn Arthur vor fünf Jahren verloren hat, hört bestimmte Songs nochmal ganz anders. Die Interpreta­tion ist allerdings nicht bei allen Stücken düster – die Bandbreite umfasst auch eine heitere Leichtfüßi­gkeit wie etwa bei „Sad Waters“.

Zur Musik ist auch ein Konzertfil­m entstanden, der in ausgewählt­en Kinos hätte gezeigt werden sollen. Corona hat das weitgehend vereitelt, sodass er teils nur übers Internet gestreamt worden ist. Er soll demnächst auch als DVD erscheinen und auf Videoplatt­formen abrufbar sein – inklusive vier Titeln, die nicht auf dem Musikalbum enthalten sind. Die Ausschnitt­e zeigen: zur akustische­n Gänsehaut kommt im Film auch noch eine optische dazu.

Nick Cave: Idiot Prayer. Bad Seed 2020

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FOTO: BAD SEED Nick Cave – allein im riesigen Alexandra Palace in London.

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