Tuttlinger Klinik kurz vor Krisenmodus
„Ausnahmesituation mit einem Großunglück vergleichbar“: Hohe Corona-Zahlen ein Problem
TUTTLINGEN - Die Lage im Tuttlinger Klinikum ist deutlich angespannt: „Derzeit greift schon die zweite von drei Stufen der Krisenplanung zur Versorgung von CovidPatienten“, teilt das Krankenhaus mit. Wenn es in den kommenden Tagen zu keiner Trendwende bei den Corona-Zahlen im Kreis Tuttlingen kommt, „dann müssen wir in den Krisenmodus schalten und alles andere zurückstellen“.
Momentan gilt Stufe 2: Am Wochenende ist erstmals seit Beginn der zweiten Welle die Situation eingetreten, dass die Intensivstation im Klinikum voll ausgelastet war. Alle 13 Betten waren belegt. Deshalb wurden weitere vier Betten des Aufwachraums zur Intensiv-Betreuung vorbereitet. Am Montag wurde dafür qualifiziertes Personal aus anderen Bereichen abgezogen.
Bislang mussten diese „Notbetten“nicht belegt werden, die Betriebsbereitschaft wird aufgrund der konstant hohen Infektionszahlen aber aufrechterhalten. „Wir gehen davon aus, dass sie immer wieder genutzt werden müssen“, teilt Pressesprecherin Aline Riedmüller mit Blick auf die Corona-Zahlen der vergangenen drei Wochen mit.
Eine Trendwende bei den Infektionen ist derzeit nicht in Sicht. Die Corona-Neuerkrankungen sind nach einigen Tagen der Entspannung wieder deutlich gestiegen, der 7-Tage-Index liegt Stand Donnerstag bei rund 210. Eine Inzidenz von 50 gilt als Grenzwert (siehe Kasten).
Erschwerend kommt die Tatsache hinzu, dass sich das Coronavirus gerade stark in Pflegeheimen ausbreitet. Das hat direkte Auswirkungen auf das Tuttlinger Krankenhaus:
„Wir sehen einen anhaltenden Anstieg der Zahlen vor allem bei Betagten und Hochbetagten, die mit Covid bei uns eingewiesen werden“, so Aline Riedmüller.
Schon in der Stufe 2 werden Patienten wenn möglich systematisch verlegt, um weitere Aufnahmemöglichkeiten zu schaffen. Das ist in den vergangenen zwei Tagen erfolgt. Denn vor allem die lange Beatmungsdauer bei Covid-Patienten führe sonst dazu, dass die Bettenkapazitäten schnell erschöpft wären. Für die Verlegung braucht es eine aufnehmende Klinik, und der Patient muss stabil und transportfähig sein. In den Tagen zuvor mit anhaltendem Nebel waren Transporte per Hubschrauberflug zum Beispiel nicht möglich.
Stufe 3 greift, wenn alle Kapazitäten im Krankenhaus ausgelastet sind. Dann werden Patienten, die kommen, so gut es geht betreut. Eine sogenannte Triage (Priorisierung medizinischer Hilfeleistung) wird genutzt, um die vorhandenen Ressourcen mit dem möglichst größten Nutzen für die Patienten einzusetzen. Diese Eskalationsstufe 3 sei mit der Ausnahmesituation bei einem Großunglück vergleichbar, heißt es. Auch bei einem schweren Zugunglück würde man so vorgehen. „Es muss unter allen Umständen gelingen, die Stufe 3 zu vermeiden“, teilt das Klinikum mit.
Jahreszeitlich bedingt gibt es derzeit zusätzlich zu den Covid-Patienten eine erhöhte Anzahl weiterer Intensivpatienten, zum Beispiel durch Herzinfarkt oder Schlaganfall. Auch ist der Krankenstand beim Klinik-Personal erhöht. „Dies alles zusammengenommen führt uns jetzt in Richtung der Grenzen des Leistbaren“, erklärt Klinik-Geschäftsführer Sebastian Freytag.
Dabei machten schon fünf bis sechs schwer Erkrankte zusätzlich den Unterschied aus, ob eine geordnete Versorgung noch möglich sei „oder wir vollständig in einen Krisenmodus
schalten müssen“. Wie das aussehen kann, habe man anhand von Bildern aus anderen Ländern vor Augen. Freytag: „Nur sind es dann unsere Eltern und Großeltern, die wir auf solchen Bildern sehen werden.“Die Situation im Klinikum sei heute schwieriger als im Sommer.
Schon seit Anfang November wird geschultes Personal aus dem OP für die Betreuung der Covid-Patienten abgezogen. Dafür wurde der OP-Betrieb in Spaichingen eingestellt, ausgenommen davon sind kleinere Eingriffe in lokaler Betäubung. Für dringende Fälle bestand die Möglichkeit, in Tuttlingen zu operieren. In Tuttlingen wiederum wurden Operationen immer rund zwei Tage im Voraus geplant, mit Blick auf freie Kapazitäten der Intensivbetten. Riedmüller: „.Man kann sagen, dass wir seitdem etwa ein Drittel bis die Hälfte möglicher Operationen nicht durchführen konnten. Das entspricht täglich etwa sechs bis zehn Eingriffen.“
Seit 22. Oktober gilt ein generelles Besuchsverbot im Klinikum Landkreis Tuttlingen. Ausnahmen werden nur bei kritisch kranken oder sterbenden Patienten gemacht und müssen mit der Station oder dem behandelnden Arzt abgesprochen werden. Diese Maßnahmen sind aus Sicht des Klinikums geboten, um Infektionsübertragungen vor allem auch auf das Personal zu vermeiden, was zu einer dramatischen Zuspitzung der ohnehin sehr angespannten Lage führen würde.
„Wir müssen unbedingt und bis auf Weiteres unsere Kontakte massiv reduzieren und bei absolut notwendigen Zusammenkünften die Regeln zur Vermeidung einer Infektionsübertragung streng beachten“, appelliert Sebastian Freytag an die Bürgerinnen und Bürger des Landkreises und fordert sie auf, auf andere einzuwirken, die sich nicht daran halten.
Denn vor allem für alte Menschen gelte es, jedes Risiko einer Infektion zu vermeiden und sie davor zu schützen.
„Das alles zusammengenommen führt uns jetzt in Richtug der Grenzen des Leistbaren.“
Sebastian Freytag