Polkazeit in Planica
Auf der Letalnica im Nordwesten Sloweniens wird der Skiflug-Weltmeister gekürt – Vorfreude bei Markus Eisenbichler
Auch wenn die Höhenflüge – später – auf anderer Bühne erfolgen sollten: Slavko Avsenik sprang Ski mit und aus Leidenschaft. Nicht schlecht überdies. Bis in Jugoslawiens Nationalmannschaft brachte es der Mann aus Begunje in den ersten Nachkriegswintern, verbürgt ist eine persönliche Bestweite von 74 Metern. Erreicht im „Tal der Schanzen“. In Planica, wo heute die Letalnica bratov Gorišek steht, einer der weltweit nur vier homologierten, sprungbereiten Bakken mit mehr als 185 Meter Hillsize, mit einem Konstruktionspunkt jenseits der 145 Meter. Eine, nein: die Skiflugschanze, bis Sonntag Schauplatz der 26. Skiflug-Weltmeisterschaft.
Planica blieb für Slavko Avsenik stets ein besonderer Ort, auch als ein Sturz die Springerkarriere früh beendet hatte und der 24-Jährige seiner zweiten Passion nachging. Erfolgreichst nachging: als Komponist und fingerfertiger Beherrscher von PianoAkkordeon und Steirischer Harmonika, als Gründervater des VolksmusikEnsembles „Slavko Avsenik und seine Original Oberkrainer“. Dessen Polka gewordene Liebeserklärung „Planica, Planica“wurde erstmals bei der Eröffnung der Skiflug-WM 1979 zu Gehör gebracht; 2020 würdigt sie, kurz angespielt, all die, die von der Letalnica erst nach 230 Metern Luftfahrt landen.
230 Meter – davon waren die 43 Starter der ersten Skiflug-Weltmeisterschaft 1972 Ewigkeiten entfernt. Premierenstätte: Planica. Premierensieger: Walter Steiner, Schweizer,
Holzbildhauer im Brotberuf. Kein unwichtiges Detail. Dank des Vorstellungsvermögens, das seine Arbeit verlange, habe er das Gefühl für den runden, wohlgetimten Sprung entwickelt, verrät der bald 70-Jährige gerne. Medaillenschmiede Hobelbank. Den Vogelmenschen nannten sie Walter Steiner. Vogelmenschs Goldflüge: 155 und 158 Meter. 1977 in Vikersund wiederholt Walter Steiner seinen Triumph, längst aber ist er Mahner, sagt er Sätze wie „Das Skifliegen hat solche Dimensionen angenommen, dass es nicht mehr ganz ungefährlich ist; wir sind an der Grenze“. Längst geht er dann und wann freiwillig zwei Luken tiefer als die Konkurrenz in die Anfahrtsspur, um nicht sehenden Auges zu riskieren, sich ins Flache, unberechenbar Heikle zu katapultieren.
Auf 252 Meter ist Ryoyu Kobayashi beim Weltcup-Fliegen am 24. März vergangenen Jahres in Planica getragen worden – Schanzenrekord! Möglich sind derlei Weiten, weil die Fluganlagen umgebaut wurden nach und nach, sicherer gemacht wurden im Steiner’schen Sinn. Planica 2020 und Planica in den 1970ern sind zweierlei. Auch wenn Slavko Avesniks Kulthymne beides verbindet, wenn Skifliegen Faszinosum bleibt.
Noch immer ist Respekt ein guter Flugbegleiter; wissenschaftlich mannigfach belegt sind signifikant höherer Adrenalinspiegel, schnellerer Herzschlag (Puls 180 und mehr am Schanzentisch), vorab vermehrter Harndrang und je Wettkampftag bis zu zwei Kilo Gewichtsverlust. Stress pur – den im Ideallfall die reine Lust belohnt, sieben, acht Sekunden lang. Ihr Gefühl im Himmel über Slowenien, Markus Eisenbichler? Die Antwort von Deutschlands derzeit bestem Skispringer, 2019 Weltcup-Sieger in Planica, lässt ahnen, was uns Erdenschweren versagt bleibt: „Wie Aladin, der auf dem fliegenden Teppich umherfliegt. Man denkt eigentlich nur, man mag aus dem Gefühl nimmer raus. Aus der Schwerelosigkeit, aus dem Freisein. Man hat im Flug einfach keine anderen Gedanken wie: ,Ich mag so weit wie möglich nach unten und den Flug genießen.‘ Die ganzen Sorgen und Ängste, die man im normalen Leben hat, die verschwinden da einfach. Alles, was dich bedrückt, ist auf einmal weg.“
Darum also geht es auf der Letalnica. Und um die Weltmeistertitel solo (nach vier Wertungsflügen an Freitag und Samstag) sowie im Team (Sonntag). Markus Eisenbichler, Karl Geiger und Pius Paschke sind bei Bundestrainer Stefan Horngacher gesetzt, den vierten deutschen Startplatz fliegen Severin Freund, Martin Hamann und Constantin Schmid in den zwei Trainingsdurchgängen des Donnerstags aus. Auf einer, so Stefan Horngacher, „schon ein bissl eigenen Schanze“. Ihr Schlüssel: „Man muss oben relativ gut vom Tisch wegkommen, dass viel Rotation entsteht. Nur so kommt man auch unten dann auf Weite. Man braucht schon einen gewissen Anteil an Höhe, aber auch einen gewissen Anteil an Geschwindigkeit, um richtig über den Vorbau drüberzukommen. Und die große Challenge beim Skifliegen ist immer: So ab 180 Metern wird der Aufsprung unten immer flacher, da muss man dann den Flugwinkel entsprechend anpassen, sodass man unten noch genug Luft unterm Ski hat.“Dann könne man „auch an dem flachen Teil noch ein wenig wegfliegen“. Die Voraussetzung, um zu bestehen. Gegen den von Covid-19 genesenen Stefan Kraft (Weltrekordler seit 2017 mit 253,5 Metern in Vikersund), gegen die zuletzt kollektiv so auftrumpfenden Norweger, gegen ...
„Prinzipiell ist immer jeder zu schlagen“, sagte Stefan Horngacher am Mittwoch. Und: „Ich denke, dass wir doch relativ gute Leute in unserem Team haben.“Leute, die der Letalnica bratov Gorišek gewachsen sind („die das ganz gut können“). Und zünftige Klänge zu schätzen wissen. Herr Kapellmeister, übernehmen Sie: „Planica Planica, snežena kraljica!“