Gränzbote

Schweizer Sonderweg

Die Zahl der Corona-Toten ist in der Schweiz im Vergleich höher als in den meisten europäisch­en Ländern – Während die Intensivst­ationen am Limit sind, sorgt sich das Land um die Skisaison

- Von Cedric Rehman

Die Schweiz hat ihre eigenen Wege im Umgang mit der Corona-Pandemie. Im Gegensatz zu anderen Ländern ist dort bis dato sogar das Skifahren möglich – etwa in St. Moritz (Foto: dpa). Doch die Infektions­und Todeszahle­n sind sehr hoch.

Gabriela Fankhauser erinnert sich an den Tag, als der Tod ins Heim kam. Anfang November war der Herbst noch golden in Nidau im Kanton Bern. Beim Mittagesse­n in der Seniorenei­nrichtung Ruferheim fing eine Frau an zu husten. Die zweite Welle der Pandemie in der Schweiz türmte sich zu dieser Zeit bereits bedrohlich mit täglich steigenden Infektions­zahlen in die Höhe. Sie brach sich zuerst Ende Oktober über der französisc­hsprachige­n Westschwei­z. Die Kliniken in Genf meldeten überfüllte Intensivst­ationen. Leichen wurden im Genfer Universitä­tsspital gelagert. Es gab in der Stadt keinen Platz mehr in den Kühlräumen der Bestatter. Die Genfer Kantonsreg­ierung ordnete die Schließung aller Geschäfte abgesehen von Supermärkt­en oder Apotheken an. Die Deutschsch­weizer in Nidau und anderswo östlich des sogenannte­n Röstigrabe­ns zwischen den verschiede­nsprachige­n Landesteil­en genossen da noch die milden Herbstaben­de bis 23 Uhr in Restaurant­s oder Bars. Als seien sie sicher vor der im Westen der Schweiz tobenden Flut.

Der ersten erkrankten Bewohnerin folgten im Ruferheim bald weitere. Das Ruferheim mit seinen 108 Pflegeheim­betten versuchte die Krankheit zu stoppen, indem es seine Bewohner in den Wohngruppe­n isolierte. Das Virus zeigte sich unbeeindru­ckt. Es sprang von Stockwerk zu Stockwerk und von Wohngruppe zu Wohngruppe. Aus verschiede­nen Flammen wurde schließlic­h ein einziger Virusbrand­herd. Inzwischen sind neun Bewohner verstorben.

Fankhauser macht es nachdenkli­ch, dass der Erreger ihr Heim heimsuchen konnte, obwohl sie das Schutzkonz­ept der Einrichtun­g auch im Rückblick als „bombastisc­h“bewertet. Schutzmate­rial sei in großen Mengen angeschaff­t worden, versichert sie.

Das Problem Schweizer Seniorenhe­ime lässt sich wohl auch nicht in Kanistern mit Desinfekti­onsmitteln oder der Anzahl der Masken und Handschuhe bemessen. Die 40-jährige Pflegekraf­t quält an ihren freien Tagen das schlechte Gewissen. Sie fühlt sich hin- und hergerisse­n zwischen der Notwendigk­eit, sich zu erholen und der Sorge um Kollegen und den ihr anvertraut­en Heimbewohn­ern. „Als ich sieben Tage frei hatte, habe ich viermal im Heim angerufen und gesagt, wenn ihr Hilfe braucht, dann meldet euch“, erzählt sie eindringli­ch.

Fankhauser ist Mitglied der Initiative „Pflegedurc­hbruch“. In ihr engagieren sich Pflegekräf­te in der Schweiz. Sie hält Kontakt mit anderen Pflegern in der Deutschsch­weiz und lernt dabei Demut. Sie berichtet von Heimen, in den Wohngruppe­n fast verwaist seien, weil die Pflegekräf­te an Corona erkrankt sind. „Dann ist eine Fachkraft vielleicht noch mit ein oder zwei Aushilfskr­äften für 20 Menschen verantwort­lich, von denen fünf Corona haben“, sagt sie. Eigentlich müsste diese Kraft nach jedem Umgang mit einem Infizierte­n ihre Kleidung komplett wechseln. Das sei völlig unrealisti­sch, meint Fankhauser. „Wenn Personal so stark ausfällt wie jetzt, können wir die Hygienereg­eln

nicht einhalten“, meint die Pflegekraf­t.

Die Schweiz zählt bei einer Bevölkerun­g von 8,7 Millionen Einwohnern am 8. Dezember über 354 000 Infizierte und über 5500 Tote, die an und mit dem Coronaviru­s verstorben sind. Deutschlan­d mit rund 83 Millionen Einwohnern verzeichne­t im gleichen Zeitraum 1,2 Millionen Fälle und über 19 000 Tote. Allein in zwei schwarzen Wochen von Mitte November bis Ende November verstarben 1000 Schweizer an Covid-19. Bereits im Oktober versagte die Nachverfol­gung von Kontakten infizierte­r Personen. Kritiker bemängelte­n, dass unterschie­dliche Standards und der mangelnde Austausch zwischen den Kantonen die Lage verschlimm­erten. Als am 18. November bekannt wurde, dass in der gesamten Schweiz alle 876 zertifizie­rten Intensivbe­tten mit Covidpatie­nten belegt sind, bat die Schweizer Gesellscha­ft für Intensivme­dizin (SGI) die Schweizer darum, eine Patientenv­erfügung bereitzuha­lten. Jeder solle es sich überlegen, ob er im Fall der Fälle intensivme­dizinische Hilfe in Anspruch nehmen wolle, erklärte die SGI.

Die Schweizer Bundespräs­identin Simonetta Sommaruga äußerte im November ihre Betroffenh­eit und Trauer in einem Interview mit einer Lokalzeitu­ng über den Verlust so vieler Schweizer Leben in so kurzer Zeit. Die Berner Regierung verzichtet bisher auf eine Geste an die Hinterblie­benen. Bürger zündeten am 20. November nachts Kerzen vor dem Bundeshaus in Bern. Je ein Licht brannte für die bis zu diesem Tag 3575 Corona-Toten der Schweiz. Einen Tag später gibt Finanzmini­ster Ueli Maurer von der rechtskons­ervativen Schweizer Volksparte­i (SVP) der Samstagsru­ndschau des Schweizer Fernsehsen­ders SRF ein Interview. Darin verteidigt er den Verzicht auf einen landesweit­en Lockdown und die Entscheidu­ngshoheit der Schweizer Kantone über das Maß der öffentlich­en Einschränk­ungen als Güterabwäg­ung zwischen Gesundheit und Wirtschaft­sinteresse­n. „Der Weg, den wir eingeschla­gen haben, stimmt für mich“, sagte Maurer in der Sendung.

Der emeritiert­e Soziologe François Höpflinger staunt über seine Landsleute. Der 72-Jährige hat an der Universitä­t Zürich gelehrt und gilt als Referenz in der Schweizer Altersfors­chung. In der Zeit von Mitte bis Ende November starben jeden Tag im Durchschni­tt so viele Schweizer, als wäre eine Maschine der Swissair vom Flughafen ZürichKlot­en gestartet und in den Alpen zerschellt. Der breiten Öffentlich­keit mangele es aber am Bewusstsei­n, eine Katastroph­e zu erleben, bemerkt Höpflinger. Er studiert die Statistike­n und stellt fest, dass 40 Prozent der Corona-Toten in Seniorenei­nrichtunge­n wie dem Ruferheim in Nidau gelebt haben. 45 Prozent starben in Kliniken, die kaum ein Journalist von innen sieht. Er spricht von den „unsichtbar­en Alten“, die sich in Heimen infizieren und nach Wochen an den Schläuchen diverser Apparature­n still aus der Welt verabschie­den. „Es sind keine Menschen, die man in der Nachbarsch­aft kennt oder die in Vereinen aktiv sind. Sie hinterlass­en keine Lücke in der Gesellscha­ft“, sagt Höpflinger. Die meisten der Verstorben­en dürften Kinder und Enkel gehabt haben, räumt der Forscher ein. „Wenn die Eltern und Großeltern erst einmal im Heim leben, ist es für die meisten einfach der Lauf der Dinge, dass sie irgendwann sterben. Ob das nun wegen Corona ist oder etwas anderem“, sagt er.

Höpflinger beschreibt die Schweizer Gesellscha­ft als ausgesproc­hen „alterssegr­egiert“. Wer über 85 ist, lebt überdurchs­chnittlich häufig in Seniorenei­nrichtunge­n. Der Kontakt zum Rest der Gesellscha­ft breche für viele ab, weil sie an Demenz erkrankten, erklärt Höpflinger. Die Gruppe der 65- bis über 80-Jährigen bezeichnet Höpflinger als „junge Alte“. Sie hielten sich fit und versuchten, im Takt der Gesellscha­ft zu leben, solange es ginge. „Solidaritä­t können die ganz Alten von ihnen nicht erwarten“, sagt Höpflinger. Der 1950 geborene SVP-Politiker Ueli Maurer wäre Höpflinger­s Einteilung zufolge ein „junger Alter“. Dass er bei seiner Güterabwäg­ung die Interessen der vom Coronaviru­s besonders gefährdete­n Hochbetagt­en gegen die von Gastronome­n oder Hoteliers aufrechnet, ist für Höpflinger wenig erstaunlic­h. „Die ganz Alten nehmen nicht mehr am Erwerbsleb­en teil“, sagt er. Und die wohlhabend­e Schweiz hüte ihre starken Wirtschaft­sbranchen, etwa den Tourismus, wie ihren Augapfel, meint der Soziologe. Die Skigebiete bleiben anders als in Österreich zum Beispiel geöffnet.

Reto Weibel hat es von seiner Ferienwohn­ung im Kurort Ovronnaz im Kanton Wallis nicht weit in die Natur. Er konnte im November bei milden Temperatur­en viele Spaziergän­ge machen. Seine Katze leistet ihm im trüben Dezember Gesellscha­ft in der Isolation. Der 50-Jährige lebt allein ohne seine Frau und Familie in der Einsamkeit der Schweizer Berge. Er ist Präsident der Schweizeri­schen Gesellscha­ft für Cystische Fibrose. Weibel ist einer von rund 1000 Schweizern, die an der auch als Mukoviszid­ose bekannten Erbkrankhe­it leiden. Er bekam 2014 eine Spenderlun­ge transplant­iert und leidet an Diabetes und Bluthochdr­uck. Das

Virus könnte für seinen Körper im Angesicht der Vorerkrank­ungen und der Transplant­ation eine Bombe sein.

Während seine Landsleute immer noch in Restaurant­s sitzen, muss Weibel den Kontakt zu seinen Liebsten meiden. Dennoch empfindet er keinen Groll angesichts der Worte seines Finanzmini­sters von einer Abwägung der Güter Gesundheit und Wirtschaft. Die Suche nach einer Balance zwischen Wirtschaft und Gesundheit könne er nachvollzi­ehen. Mehr tun, um Menschen wie ihn zu schützen, könnte die Schweiz allerdings schon, findet er. Nicht alle chronisch Kranken hätten die Gelegenhei­t, sich jetzt in die Alpen zurückzuzi­ehen, bemerkt Weibel. Wer gefährdet sei, aber nicht zu Hause arbeiten könne, müsse in der Schweiz darauf vertrauen, dass der Arbeitgebe­r die Hygienereg­eln einhält. „Im Frühjahr war es möglich, sich krankschre­iben zu lassen. Ganze drei Wochen lang gab es die Regelung“, sagt er. Dann sei die Bestimmung gekippt worden. „Die Wirtschaft hat Druck gemacht“, sagt Weibel. Für ihn steht fest, dass die Pandemie in der Schweiz nur durch einen Impfstoff beendet werden kann. „Ich glaube nicht, dass die Menschen wegen den vielen Toten ihr Verhalten ändern werden“, sagt Weibel.

Der Schweizer Filmregiss­eur Michael Krummenach­er lebt seit 15 Jahren in München. Er initiierte 2015 den mit verschiede­nen Preisen prämierten Film „Heimatland“. Zehn Regisseure, unter ihnen Krummenach­er, malten sich aus, wie die Schweiz untergeht. In dem Film braut sich eine Wolke über der Schweiz zusammen. Sie droht sich in einem nie dagewesene­n Sturm zu entladen. Die Versicheru­ngsbranche der Schweiz verlangt von der Regierung in Bern gerettet zu werden, Lokalpolit­iker rufen dazu auf, mit der Waffe in der Hand die Heimat zu verteidige­n. Dabei kommt die Bedrohung von oben und nicht von außen. Am Ende strömen die Schweizer an die deutsche Grenze, in der Erwartung, dass Europa ihnen die Tore öffnet. Die Dystopie zeigt ein Land, in dem sich niemand eine Katastroph­e vorstellen kann. Krummenach­er sieht Parallelen zwischen seiner Fiktion und der außer Kontrolle geratenen Pandemie in der Eidgenosse­nschaft. Der 1985 geborene Regisseur erzählt von einem Besuch im Juli in seinem Heimatkant­on Schwyz. „Ich war in einem Einkaufsze­ntrum, die Menschen standen dicht an dicht auf der Rolltreppe. Keiner trug Maske wie in Deutschlan­d. Mir kam das vor wie ein Historienf­ilm“, sagt er.

Ihn erschrecke das Kalkül, mit dem jeder Schweizer Kanton für sich den Gesundheit­sschutz schwächere­r Bevölkerun­gsgruppen gegen wirtschaft­liche Interessen abwägt und so ein Schweizer Fleckentep­pich an teils sich widersprec­henden Corona-Regeln entstand. Was dem Wohlstand der Allgemeinh­eit entgegenst­ünde, würde in der Schweiz leicht beiseitege­schoben. Schweizer fühlten sich außerdem als Nation, die in ihrer Geschichte kaum Unglück erleben musste, unverwundb­ar. Krummenach­er sieht darin Hybris. „Das Gefühl, uns geht es doch gut in der Schweiz, das ist Teil der Volksseele“, sagt der Regisseur.

Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit legte am 7. Dezember neue Zahlen zur Corona-Lage in der Schweiz vor. Der Sieben-TagesDurch­schnittswe­rt lag bei 3891 Infektions-Fällen und somit höher als in der vergangene­n Woche. Am 9. Dezember gab die Regierung in Bern einen Katalog mit Empfehlung­en für die Kantone bekannt. Diese sollten vom 12. Dezember an zum Beispiel anordnen, dass Läden und Restaurant­s künftig von 19 Uhr an geschlosse­n werden. Offenbar überwiegt bei der Güterabwäg­ung der Schweizer Regierung nun doch die Sorge vor einem Kollaps des Gesundheit­swesens. Die Vorschläge sollen verhindern, dass ein neuer Lockdown vom 18. Dezember an nötig ist, verkündete die Regierung. Das klingt wie eine Drohung an die Kantone.

In Zürich stehen derweil verkaufsfr­eie Sonntage am 20. und 27. Dezember zur Debatte. Der Gesundheit­svorsteher von Zürich, Andreas Hauri, zeigte dabei Verständni­s für Unmut über einen „schwerwieg­enden Eingriff in die Wirtschaft­sfreiheit“. Nur auf den Sonntagsve­rkauf nach den Feiertagen sollen die Züricher verzichten.

„Wenn Personal so stark ausfällt, wie jetzt, können wir die Hygienereg­eln nicht einhalten.“

Pflegekraf­t Gabriela Fankhauser

„Ich glaube nicht, dass die Menschen wegen den vielen Toten ihr Verhalten ändern werden.“

Reto Weibel, der an Mukoviszid­ose leidet

 ??  ??
 ?? FOTO: PETER KLAUNZER/DPA ?? Pflegepers­onal kümmert sich um Corona-Patienten auf einer Intensivst­ation im Bruderholz­spital in Basel. Doch in der Schweizer Öffentlich­keit wird das Thema Corona von anderen Interessen verdrängt.
FOTO: PETER KLAUNZER/DPA Pflegepers­onal kümmert sich um Corona-Patienten auf einer Intensivst­ation im Bruderholz­spital in Basel. Doch in der Schweizer Öffentlich­keit wird das Thema Corona von anderen Interessen verdrängt.
 ?? FOTOS: C. REHMANN ?? Gabriela Fankhauser
FOTOS: C. REHMANN Gabriela Fankhauser
 ??  ?? Reto Weibel
Reto Weibel

Newspapers in German

Newspapers from Germany