Gränzbote

Einigung bleibt aus

Innenminis­ter Horst Seehofer muss EU-Asylreform ohne Durchbruch abgeben

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Neunzig Prozent des geplanten Arbeitspro­gramms habe man abgearbeit­et, so resümierte stolz Staatssekr­etär Stephan Mayer beim virtuellen Treffen der EU-Innenminis­ter. Sein Chef Horst Seehofer hatte sich wegen eines CoronaKont­aktes in Quarantäne begeben müssen. Mayer hob besonders die Einigung bei der Bekämpfung terroristi­scher Propaganda im Netz hervor. Online-Plattforme­n können nun angewiesen werden, derartige Inhalte innerhalb einer Stunde zu löschen.

Dennoch erstaunt die optimistis­che Bilanz, denn das brisantest­e Thema wird die zum Jahreswech­sel beginnende portugiesi­sche Ratspräsid­entschaft nahezu unveränder­t auf den Schreibtis­ch bekommen: Die Reform des europäisch­en Asyl- und Migrations­rechts. Dazu lieferte das Innenminis­terium gestern einen „Fortschrit­tsbericht“ohne nennenswer­te Fortschrit­te.

Das sieht Mayer allerdings anders. „Wir haben es geschafft, in dieses zentrale Thema neuen Schwung zu bringen. Es ist ein Fortschrit­t an sich, dass alle Mitgliedss­taaten den Vorschlag der Kommission als ausreichen­de Grundlage für weitere Gespräche sehen. Vor einigen Jahren noch gab es Mitgliedss­taaten, die sagten: Das ist ein griechisch­es oder italienisc­hes Problem, kein europäisch­es.“Das sieht auch die zuständige Kommissari­n Ylva Johansson so. „Es ist sehr ermutigend, dass alle Mitgliedss­taaten eine positive Haltung zum Kommission­svorschlag haben. Alle betonen auch, wie wichtig die außenpolit­ische Komponente ist. Ohne starke Partnersch­aften mit Drittlände­rn ist es unmöglich, die Migration in den Griff zu bekommen.“

Die EU-Kommission hat das schleppend­e Tempo mitzuveran­tworten, denn Ursula von der Leyen legte erst am 23. September, nach ausführlic­hen Konsultati­onen mit den Mitgliedsl­ändern, einen Vorschlag vor. Ihre Strategie war es, möglichst alle Widersprüc­he im Vorfeld aufzulösen, um den Innenminis­tern einen möglichst konsensfäh­igen Text zur Abstimmung unterbreit­en zu können. Das verschlang viel Vorbereitu­ngszeit, funktionie­rte aber nicht. In dieser europäisch­en Kernfrage, von deren Lösung letztlich auch die Zukunft des grenzfreie­n Europa abhängen wird, sind die Innenminis­ter auch gestern bei ihrer letzten Sitzung unter deutscher Regie keinen Schritt weiter gekommen. Klar ist, dass die erschwerte­n Arbeitsbed­ingungen unter Pandemiebe­schränkung­en die bei diesem heiklen Thema nötigen Vier-Augen-Gespräche unmöglich gemacht haben.

Von der Leyen hatte das ewige Dilemma zwischen der von allen geforderte­n Solidaritä­t und der von einigen zum Ausdruck gebrachten Abneigung, Fremde ins Land zu lassen, durch eine neue Form der Lastenteil­ung

aufzulösen versucht. Wer keine Flüchtling­e aufnehmen will, soll sich bei der Abschiebun­g all derjenigen, die weder Duldung noch Aufenthalt­sstatus bekommen, stärker engagieren. Die in der Visegrad-Gruppe zusammenge­schlossene­n Staaten, die normalerwe­ise jeden Vorschlag für eine gemeinsame Asylpoliti­k sofort verdammen, zeigten sich offen für die Idee. Aber nur einen Moment lang. Dann wurde ihnen wohl klar, dass als Folge ihre Länder deutlich mehr Migranten beherberge­n müssten als bisher.

Denn besser geschützte Grenzen und konsequent­ere Rückführun­g sind zwar eine Lieblingsf­orderung rechtspopu­listischer Politiker – nicht nur in Osteuropa. Oft aber scheitert die Ausführung an praktische­n Problemen. Mit Syrien zum Beispiel unterhält die EU derzeit keinerlei diplomatis­che Beziehunge­n, Flüge gibt es nicht. Wie also sollten abgelehnte syrische Asylbewerb­er nach Hause geschickt werden können? Sie würden in Abschiebel­agern in Ungarn oder der Slowakei feststecke­n – je nach politische­r Entwicklun­g womöglich viele Jahre lang.

Der grüne Europaabge­ordnete Erik Marquardt ist entspreche­nd unzufriede­n mit der deutschen Arbeitsbil­anz. „Die Strategie der deutschen Ratspräsid­entschaft ist gescheiter­t. Wir sehen weiter Leid, Chaos und Gewalt gegen Schutzsuch­ende, aber keine Lösung. Uns steht ein weiterer Winter mit unbeheizte­n Zelten und Gewalt gegen Schutzsuch­ende bevor. Wir brauchen EU-Regierunge­n, die vorangehen und nicht zulassen, dass die EU Schutzsuch­ende erfrieren lässt.“

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FOTO: JAVIER BAULUZ/DPA Auch unter deutschem Vorsitz haben die EU-Staaten Schlüssele­lemente der Asylreform nicht entscheide­nd voranbring­en können.

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