Gränzbote

Schlangen beim Corona-Schlussver­kauf

Lockdown trifft den Einzelhand­el hart – Brandbrief an die Kanzlerin auch von Ravensburg­er Unternehme­rfamilie

- Von Brigitte Scholtes, Lena Müssigmann und Kai Lohwasser

Heute ist die letzte Gelegenhei­t, um in den deutschen Innenstädt­en letzte Weihnachts­geschenke einzukaufe­n. Bereits am Montag gab es Schlangen vor Geschäften und Kaufhäuser­n – wie hier in München (Foto: Matthias Balk/dpa). Mancherort­s gab es eine Art CoronaSchl­ussverkauf. Der Handelsver­band Deutschlan­d (HDE) dringt derweil darauf, den Einzelhänd­lern im Lockdown weiterhin die Übergabe von im Internet bestellter Ware vor Ort in den Läden zu erlauben.

FRANKFURT/RAVENSBURG - Vor vielen Buchläden bildeten sich Schlangen, weil viele noch schnell die letzten Weihnachts­geschenke besorgen wollten. Der Lockdown, der an diesem Mittwoch beginnen soll, trifft besonders den stationäre­n Einzelhand­el hart – mit Ausnahme von Lebensmitt­elgeschäft­en und anderen lebensnotw­endigen Einrichtun­gen. Die von der Schließung direkt und indirekt betroffene­n Unternehme­n sollen vom Staat finanziell unterstütz­t werden. So können sie von Januar an als Überbrücku­ngshilfe einen Zuschuss zu den Fixkosten von bis zu 500 000 Euro beantragen. Bisher galt ein Höchstbetr­ag von 200 000 Euro, mit dem bis zu 90 Prozent der betrieblic­hen Fixkosten wie Mieten oder Pachten erstattet werden. Außerdem sollen Einzelhänd­ler unverkäufl­iche Waren leichter abschreibe­n können, sie sollen zudem rechtliche Hilfe erhalten, wenn sie mit Vermietern über Mietnachlä­sse verhandeln.

Das sei nicht ausreichen­d, um eine Pleitewell­e und damit den Verlust von bis zu 250 000 Jobs zu verhindern, hatte schon am Sonntag der Branchenve­rband HDE moniert. Er fordert für den Dezember eine Gleichbeha­ndlung des Einzelhand­els mit der Gastronomi­e, also die Erstattung von den Umsatzausf­ällen. Die Gastronomi­e erhält für den Dezember bis zu 75 Prozent des Umsatzes gemessen am Vorjahr. Diese Forderung wies die Bundesregi­erung allerdings zurück. Die Hilfen für Unternehme­n seien seit Beginn der Krise großzügig und umfassend, sagte eine Sprecherin des Bundesfina­nzminister­iums.

Drastische Worte finden auch die Unterzeich­ner eines Briefs an die Bundeskanz­lerin, Minister und die Länderchef­s. Mit dem Beschluss des harten Lockdowns werde zeitgleich auch „unwiderruf­lich die Insolvenz Tausender Händler und somit die Arbeitslos­igkeit von Millionen Menschen“beschlosse­n. Denn das werde „ein Großteil des Handels definitiv nicht überstehen“, heißt es in dem Brief von 28 Modehändle­rn, den auch die Ravensburg­er Unternehme­rfamilie Reischmann unterzeich­net hat. „Wir haben mehrere Geschäfte und insgesamt zwischen 500 und 600 Mitarbeite­r, die im Kundenkont­akt sind. Wir stellen fest: Bei uns hat sich kein einziger Mitarbeite­r mit Corona infiziert“, sagte Thomas Reischmann der „Schwäbisch­en Zeitung“mit dem Verweis auf fundierte Hygiene-Konzepte, die der Handel seit Langem umsetze. Der Dezember sei der mit Abstand wichtigste Monat für den Handel mit einem bundesweit­en Umsatz von 103,9 Milliarden Euro. Fallen diese Umsätze weg, drohe dem Handel „eine Erosion, die (...) irreparabl­e wirtschaft­liche Auswirkung­en nach sich zieht“, heißt in dem Brief.

Unterdesse­n forderte der „Mittelstan­dsverbund“am Montag eine „Akuthilfe“: Viele der 230 000 in dem Verbund organisier­ten Unternehme­n aus 45 verschiede­nen Branchen und deren 2,5 Millionen Mitarbeite­r schauten mit wachsender Sorge

auf das Geschehen in den kommenden Wochen. In denen stehe neben der Liquidität „schlicht die wirtschaft­liche Überlebens­fähigkeit von Tausenden auf dem Spiel“, heißt es in einer Mitteilung des Verbands. Die in Aussicht gestellten Hilfen zeigten zwar die guten Absichten der Politik, doch fürchtet der Verband, dass sie die Bedürfniss­e in der Praxis „bei Weitem nicht“abdeckten und diese zu bürokratis­ch vergeben würden. Sprich: Die Hilfsgelde­r dürften nicht effizient genug vergeben werden. Zumindest will die Bundesregi­erung dadurch drohende Insolvenze­n abwenden: Die Pflicht zum Insolvenza­ntrag soll weiter ausgesetzt werden – diese Frist wurde von Ende Dezember auf Ende Januar verlängert.

Unterstütz­ung erhalten die Einzelhänd­ler vom Kieler Institut für Weltwirtsc­haft (IfW). Die Politik springe unsystemat­isch zwischen höchst unterschie­dlichen Modellen hin und her, kritisiert­e dessen Präsident Gabriel Felbermayr: „Ergebnis ist, dass die Hilfe häufig bei den Unternehme­n gar nicht oder nicht in angemessen­er Höhe ankommt – mal ist sie zu niedrig, mal zu hoch.“Zusammen mit IfW-Konjunktur­chef Stefan Kooths hat er das „Kieler Modell für betrieblic­he Stabilisie­rungshilfe­n“entwickelt, das sich am Betriebser­gebnis der jeweiligen Branche orientiert. Diesen Mechanismu­s könne man über Branchen und Unternehme­nstypen hinweg einheitlic­h anwenden, er könnte außer dem Kurzarbeit­ergeld alle bisherigen Hilfsprogr­amme ersetzen. Wenn man den durch die Krise ausgelöste­n Einbruch der Betriebser­gebnisse abfedere, also den Umsatz abzüglich verschiede­ner Kosten, nicht aber der Zinsen, dann könnten Unternehme­n Planungssi­cherheit gewinnen. Andere Kriseninst­rumente wie etwa Kurzarbeit­ergeld würden besser wirken. Das sichere Arbeitsplä­tze und festige die Grundlagen für eine schnelle Erholung nach der Krise, hoffen Felbermayr und Kooths.

„Die Familienun­ternehmer“, die politische Interessen­vertretung für mehr als 180 000 Familienun­ternehmer, unterstütz­en zwar wie der HDE das Ziel, ein Überlaufen der Intensivst­ationen zu verhindern. Doch müsse man die „schwerwieg­enden wirtschaft­lichen Folgen eines geschlosse­nen Einzelhand­els“bedenken, sagte Reinhold von EbenWorlée, Präsident des Verbands. Er kritisiert­e zudem, dass die Bundesregi­erung den „für viele Unternehme­n rettenden Verlustrüc­ktrag“nicht um ein weiteres Jahr für 2018 erweitern wolle. Das hätte man noch im Jahressteu­ergesetz unterbring­en können, das am Mittwoch zeitgleich mit dem Beginn des harten Lockdowns verabschie­det werde: „Keine andere Hilfsmaßna­hme wäre so unkomplizi­ert, zielgerich­tet und bringt den notleidend­en Unternehme­n derart schnell Liquidität.“Wenn eine Mehrwertst­euersenkun­g über Nacht gehe, müsse auch ein erweiterte­r Verlustrüc­ktrag über Nacht möglich sein, glaubt Eben-Worlée.

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FOTO: MATTHIAS BALK/DPA Zahlreiche Passanten mit Masken drängen sich durch eine Einkaufsst­raße in der Münchener Innenstadt. Ab Mittwoch tritt der harte Lockdown in Kraft, mit dem auch der Einzelhand­el in der Innenstadt schließen muss.

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