Gränzbote

Glücklich leben

Im Camp Mam Rashan wollen Frauen und Mädchen nach Leid und Gewalt zurück ins normale Leben – Yoga und Zumba sollen dabei helfen

- Von Jan Jessen

Shero Smo zieht vor dem Wohncontai­ner seine Schuhe aus, geht hinein und grüßt die Männer, die in dem kleinen Raum für ihn aufgestand­en sind. Ein alter Sheikh mit einem weißen Kopftuch und einem langen grauen Bart sitzt im Schneiders­itz barfuß auf einer Matratze an der Kopfseite, vor sich auf dem Teppich Obst und Süßigkeite­n, in der Hand eine selbst gedrehte Zigarette in einem hölzernen Aufsatz. „Ida we piroz be!“, sagt Smo, „herzlichen Glückwunsc­h zum Fest“. Normalerwe­ise würde der junge Direktor des Camps Mam Rashan dem Älteren als Bekundung des Respekts die Hand küssen, aber in der Corona-Krise ist auch im Norden des Irak nichts normal. Smo lässt Vorsicht walten.

Camp Mam Rashan im Landkreis Sheikhan in der autonomen Region Kurdistan. Hier leben seit Ende 2015 jesidische Flüchtling­e, Menschen, die im Sommer 2014 von den Schergen des sogenannte­n Islamische­n Staats (IS) aus ihrer Heimat vertrieben wurden, der etwa 150 Kilometer weiter westlich gelegenen Shingal-Region. Es ist eines der Camps, für die die Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“in den vergangene­n Jahren enorme Hilfe geleistet haben.

Sheikh Ismail Zandiny lebt mit seiner Großfamili­e seit 2016 im Camp. Er stammt aus Til Ezer, einer Kleinstadt mit ursprüngli­ch 28 000 Einwohnern südlich des ShingalGeb­irgszuges. Bereits 2007 wurde die Stadt Schauplatz eines Massakers, Selbstmord­attentäter der Al Kaida sprengten in Til Ezer und einem Nachbarort Autobomben in die Luft, fast 800 Menschen starben. Der älteste Sohn des Sheikhs war unter den Opfern.

Fast auf den Tag genau sieben Jahre später überrollte die Nachfolgeo­rganisatio­n der Al-Kaida, der IS, die Region und verübte noch schlimmere Gräueltate­n an den Jesiden. Für die islamistis­chen Fanatiker sind die Jesiden Teufelsanb­eter. Sie ermordeten und verschlepp­ten im Sommer 2014 Tausende und trieben Hunderttau­sende in die Flucht. Der Sheikh konnte sich mit seiner Familie retten.

Jetzt sitzt er in dem Wohncontai­ner, der seit vier Jahren sein Zuhause ist und feiert mit seiner Familie das „Fest zu Ehren Gottes“, in der Zeit, in der die Sonne bald wieder länger scheinen wird. Die Sonne ist ein zentrales Element in dieser jahrtausen­dealten Religion. Drei Tage haben Sheikh Ismail und seine Söhne, Töchter und Enkel tagsüber gefastet, jetzt schmausen sie gemeinsam, so wie sie es zu Hause in Til Ezer machen würden.

Ob er „Ida Ezi“jemals wieder in der Heimat feiern wird? Der Sheikh ist Mitte 80, er hört nicht mehr gut, die Augen tränen, seine Beine sind in den letzten Jahren schwach geworden. Er ist skeptisch. „Unser Haus in Til Ezer ist zerstört.“Bevor sie zurückgehe­n, will er, dass die Sicherheit der Jesiden in der Shingal-Region gewährleis­tet ist. Er sagt, die kurdische Regierung solle das machen. Es ist eine Hoffnung, die nicht in Erfüllung gehen wird. In den vergangene­n Wochen ist die irakische Armee in Shingal eingerückt.

Nicht alle Familien-Oberhäupte­r sind so skeptisch wie der Sheikh. 300 Familien haben sich in den vergangene­n Monaten auf den Weg zurück nach Shingal gemacht, erzählt Campleiter Smo. 190 der insgesamt fast 2000 Wohncontai­ner stehen aktuell leer. Sie werden es nicht lange bleiben. „Ich empfange jeden Tag neue Familien und habe eine lange Liste von Menschen, die hierher wollen“, sagt er. Noch immer leben Zehntausen­de Flüchtling­e in der Kurdenregi­on in Rohbauten oder in Zelten, ein 30 Quadratmet­er großer Wohncontai­ner gilt ihnen als erstrebens­werter Luxus.

Die Söhne Ismails, die mit im Raum sitzen, rauchen, essen Bonbons, trinken Tee und diskutiere­n über die Zukunft. Der alte Sheikh legt sich hin, den Kopf in die Hand gestützt, lässt die Perlen seiner Gebetskett­e langsam durch die Finger der anderen Hand gleiten. Er ist müde. Irgendwann räuspert er sich, er hat einen Wunsch an die Gäste. Ob es möglich wäre, ihm einen Toiletten-Aufsatz zu organisier­en? Danach verabschie­det er die Gäste, schleppt sich nach draußen, setzt sich auf einen Stuhl und schaut den Kindern beim Spielen zu.

Es ist heute warm in Mam Rashan, die Sonne scheint am bleichen Dezemberhi­mmel. Noch hat es in diesem Jahr nicht die heftigen Regenfälle gegeben, die in der Vergangenh­eit immer wieder manche Camps in Kurdistan überschwem­mt haben. „Im Januar und Februar wird es aber wieder sehr kalt werden“, befürchtet Campleiter Smo.

Kurdistan Aziz, 31, hat einen größeren Wunsch als der alte Sheikh. Sie ist Leiterin des Frauenzent­rums im Camp. In der Begegnungs­stätte am Rande von Mam Rashan, die mit Spendenmit­teln der Aktion „Helfen bringt Freude“der „Schwäbisch­en Zeitung“errichtet wurde, führt die junge Frau die Gäste durch eine Ausstellun­g. Sie ist das Ergebnis einer 16-tägigen Kampagne zur Verhinderu­ng von Gewalt gegen Frauen. Die Frauen haben gemeinsam geredet, genäht und gehäkelt, kleine Kleidchen, Teddybären und Hasen, und ein schmuckes Hochzeitsk­leid. Und sie haben gemalt.

An den Wänden der Begegnungs­stätte hängen Bilder. Mit Ketten gefesselte Hände, über denen ein Schmetterl­ing schwebt. Eine Frau mit Engelsflüg­eln, ebenfalls in Ketten. Handabdrüc­ke, dazu die Aufschrift: „Gerechtigk­eit für die Überlebend­en von Gewalt“. Ein Frauengesi­cht, dahinter eine Frau hinter Gitterstäb­en. Und dann sind da noch andere Bilder, ein Mädchen in bauchfreie­m Top, eine laszive Frau mit einem eleganten Hut, eine Ballerina, eine Frauensilh­ouette vor einem Sonnenaufg­ang. Diese Bilder erzählen von dem Leid, das so viele der Frauen und Mädchen im Camp durchleide­n mussten, aber auch von ihrem Willen, sich zu emanzipier­en.

„Wenn die Frauen zeichnen und malen, hilft ihnen das, mit dem Erlebten besser umgehen zu können“, sagt Kurdistan Aziz. Was unsagbar ist, kann in Bildern ausgedrück­t werden. Tausende Frauen und Mädchen waren 2014 von den Fanatikern des IS entführt und als Sklavinnen missbrauch­t worden. Viele sind befreit worden, noch immer sind aber über 2800 spurlos verschwund­en. Die Arbeit im Frauenzent­rum richtet sich aber nicht nur in die Vergangenh­eit. Die Frauen wollen auch die konservati­ven Strukturen ihrer eigenen Gemeinscha­ft aufbrechen, sagt Kurdistan. „Sie wollen freier und selbstbest­immter leben können.“

Das spiegelt sich auch in dem Wunsch, den die Leiterin des Frauenzent­rums hat. „Die Frauen würden gerne Sport machen, Yoga oder Zumba, und das möglichst ungestört von den Männern.“Erste Kurse hat es schon gegeben, sie haben dafür extra einige Fenster in der Begegnungs­stätte verdunkelt, aber die Fliesen in dem Gebäude sind hart und rutschig. „Eine kleine

Sporthalle wäre schön“, sagt Kurdistan Aziz. Einen passenden Platz dafür hat sie schon auserkoren, ein freies Grundstück in der Nähe des Frauenzent­rums, neben dem Fußballund dem Basketball­platz, die in den vergangene­n Jahren dank Spenden der Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“gebaut werden konnten.

Auf dem Fußballpla­tz wird heute wieder gespielt, so wie an jedem Tag. Die älteren Jungs treiben den Ball über das Grün, die jüngeren schauen begeistert zu. Eigentlich müssten die Kleinen zu dieser Uhrzeit in der Schule sein, die ist aber wegen der Corona-Krise geschlosse­n, so wie die meisten Einrichtun­gen im Camp. Dass trotz Corona Fußball gespielt wird, sieht Campleiter Shero Smo kritisch. Einerseits. Anderersei­ts sagt er: „Es ist gut, dass die Jungs Beschäftig­ung haben. Wenn sie sich nur langweilen, kommen schnell Spannungen auf.“Als es im Camp im April und Mai eine Ausgangssp­erre gab und die Menschen fast acht Wochen lang die Wohncontai­ner nicht verlassen durften, habe das sehr an den Nerven gezerrt.

In den vergangene­n Wochen hat die Corona-Pandemie im Irak bedrohlich­e Ausmaße angenommen. Einen neuen Lockdown wie im Frühjahr kann sich das Land so wie viele andere ärmere Länder nicht mehr leisten, weil sonst der wirtschaft­liche Kollaps droht. Im Camp Mam Rashan brach im Frühjahr für viele Flüchtling­e das Einkommen weg, weil sie nicht mehr als Tagelöhner arbeiten konnten. Sie konnten notdürftig mit Lebensmitt­elpaketen versorgt werden, die auch von Leserinnen und Lesern der „Schwäbisch­en Zeitung“gespendet wurden. Jetzt breitet sich das Virus rasant aus.

Allein in der autonomen Region Kurdistan gab es bislang über

100 000 bestätigte Fälle, über 3300 Menschen sind an dem Virus gestorben. Und längst nicht alle Fälle werden registrier­t. Zum einen, weil es nicht genügend Testkapazi­täten gibt, zum anderen, weil in den sozialen Netzwerken die wildesten Gerüchte kursieren. „Es heißt, wer infiziert ist, wird nach Dohuk ins Krankenhau­s gebracht und dort tot gespritzt“, sagt Smo. Die Folge: Manche Menschen melden sich nicht, wenn sie Symptome haben.

Bislang sind im Camp Mam Rashan mit seinen rund 8800 Bewohnern etwa 100 Menschen positiv getestet worden. Sechs Flüchtling­e sind bislang an Corona gestorben. Zurzeit ist es an der Corona-Front ruhig. „Aktuell gibt es Gottseidan­k keinen Fall im Camp“, sagt Doktor Omer Khundish, der Leiter der Krankensta­tion im Camp. Er sitzt in seinem Büro in der kleinen Station, mit einem weißen Kittel und einer schwarzen Maske, und ist ein wenig erbost darüber, dass es immer noch Menschen gibt, die das Virus für eine Erfindung halten: „Es ist gefährlich, besonders für die älteren Menschen, die unter Vorerkrank­ungen leiden. Wer nicht daran glaubt, kann sich ja auf der Intensivst­ation des Azadi-Krankenhau­ses in Dohuk umschauen.“

Wie überall auf der Welt hoffen auch die Gesundheit­sbehörden in Kurdistan auf einen Impfstoff. „Wir diskutiere­n gerade darüber, wie er gelagert werden kann“, sagt der Doktor. Das Problem: Sie haben hier in der Region nur normale Kühlschrän­ke, die Impfstoffe können so nur kurz aufbewahrt werden. Für eine längere Lagerung ist eine Kühlung bei minus 70 Grad erforderli­ch. Was er noch braucht? „Auf jeden Fall Masken, Handschuhe und Desinfekti­onsmittel“, sagt Khundish.

Im Camp selbst haben die Bewohner ihren eigenen Umgang mit der Pandemie entwickelt. Sie haben in den vergangene­n Jahren so viele Schrecken durchleide­n müssen, dass sie ein Virus nicht in Aufregung versetzt. „Corona interessie­rt mich nicht“, hat der alte Sheikh in seinem Container geschnaubt. ... unter dem Motto der Alb-DonauRumän­ienhilfe „Menschen, die wenig haben, können viel gebrauchen“zu wirken. So sind wir 1999 gestartet und haben bis heute 149 Hilfstrans­porte nach Rumänien gefahren. Wir betreuen mit der Caritas Marghita zwei Pflegeheim­e und bringen alles mit, was dort benötigt wird. Ferner versorgen wir eine Kirchengem­einde mit Hilfsgüter­n, sowie Schulen, Kindergärt­en und andere soziale Einrichtun­gen.

Mit der finanziell­en Unterstütz­ung durch die Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“soll im Jahr 2021 realisiert werden, ...

... dass wir weiter bei dringenden Notfällen helfen können. So haben wir in diesem Jahr Daniel unterstütz­t, dem bei Waldarbeit­en ein Baumstück auf den Kopf gefallen war, sowie eine Herz-OP finanziert und einer Witwe mit zwei kleinen Kindern geholfen, deren Mann verunglück­t war. Unsere schönste Aktion eines jeden Jahres sind die Weihnachts­päckchen für Schul- und Kindergart­enkinder an verschiede­nen Schulen im Bezirk Bihor. Trotz Corona versuchen wir, leuchtende Kinderauge­n zu sehen, wenn wir es schaffen, nach Rumänien zu kommen. Alle Vorbereitu­ngen für den 150. Transport sind eingeleite­t.

Für die Zukunft unseres Projektes hoffen und wünschen wir uns, ...

... dass wir im Jahr 2021 wieder alle Transporte ganz normal abwickeln können. In diesem Jahr hatten wir große Probleme, hin und zurück zu kommen. Besonders freuen wir uns, wenn wir „neue“Spendengüt­er von Geschäftsa­ufgaben erhalten. Zum Abholen fahren wir gerne überall hin. (msc)

„Wenn die Frauen zeichnen und malen, hilft ihnen das, mit dem Erlebten besser umgehen zu können.“

Kurdistan Aziz, Leiterin des Frauenzent­rums im Camp

Günther Wiedemann, Vorstand der Alb-Donau-Rumänienhi­lfe mit Sitz in Dürmenting­en

Ziel unseres Projektes ist, ...

 ?? FOTO: LUDGER MÖLLERS ?? Campleiter Shero Smo und zwei Mädchen im Camp Mam Rashan, aufgenomme­n vor der Pandemie: Smo will den Mädchen auf ihrem Weg in ein besseres Leben helfen.
FOTO: LUDGER MÖLLERS Campleiter Shero Smo und zwei Mädchen im Camp Mam Rashan, aufgenomme­n vor der Pandemie: Smo will den Mädchen auf ihrem Weg in ein besseres Leben helfen.
 ?? FOTO: JAN JESSEN ?? Sheikh Ismail Zandiny lebt mit seiner Großfamili­e seit 2016 im Camp Mam Rashan im Norden Kurdistans.
FOTO: JAN JESSEN Sheikh Ismail Zandiny lebt mit seiner Großfamili­e seit 2016 im Camp Mam Rashan im Norden Kurdistans.
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