Die Stunde der Misanthropen
Bei der momentanen Lage wird gerne verkannt, dass sich ein bestimmter Menschenschlag wann immer es ihm möglich ist, freiwillig im Lockdown befindet. Die Rede ist von der tendenziell abweisenden Spezies des Misanthropen. Dabei handelt es sich nicht um eine hässliche Topfpflanzensorte, sondern um Menschen, die Menschen nicht ausstehen können. Den Begriff übersetzt der Duden sogar mit dem ruppigen Wort Menschenhasser.
Soziologische Quellen gehen allerdings davon aus, dass in uns allen – sogar im menschenfreundlichsten
Menschenfreund – misanthropische Anteile vorhanden sind. Wer möchte nicht manchmal den Kollegen, der immer so nervös mit dem Fuß wippt, auf den Mond schießen? Oder den Nachbarn, der gerne zwischen hilflosen Übungsversuchen auf dem verstimmten Klavier seinen Rasen mäht, wenn er nicht gerade Löcher in die Wand bohrt.
Jedenfalls neigt das Individuum mit menschenkritischem Hintergrund von Natur aus dazu, Kontakte zu vermeiden. Sein Glück sucht er wahlweise in der Einsamkeit, an der man sich vielleicht mit Langeweile anstecken kann, nicht aber mit Viren, oder in einem hörigen Haustier. Vom Typ her weniger antibakteriell ist sein Gegenpol, der zur Harmonie tendierende Philanthrop. Sein Glück ist die menschliche Gesellschaft. Was das infektiologisch im Augenblick bedeutet, bedarf keiner weiteren Erklärung. So ist der Philanthrop zurzeit stark im Nachteil. Einziger Trost vielleicht ist dieses Sprichwort: „Einsamkeit ist die Schule der Weisheit.“Hoffentlich kommen bald klügere Tage. (nyf )