Gränzbote

Ein neues Leben nach dem Horror

Die Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“haben mitgeholfe­n, dass Zerap wieder auf die Beine gekommen ist

- Von Jan Jessen

ERBIL - Die junge Frau schaut selbstbewu­sst in die Kamera, ihre Augen strahlen, sie lächelt, als sie von ihrer Arbeit berichtet. Es ist, als säße da hinter der Auslage mit der Damenwäsch­e ein anderer Mensch. Noch vor einem Jahr war dieselbe junge Frau gezeichnet von dem Horror, den sie in den Jahren zuvor erleben musste. Zerap Naif Issa ist eine Überlebend­e. Sie war jahrelang in der Gefangensc­haft der Terroriste­n des sogenannte­n „Islamische­n Staates“(IS), aber sie hat einen Weg gefunden, mit dem umzugehen, was ihr widerfahre­n ist. Zerap Naif Issa ist eine Kämpferin.

Oktober 2019, Camp Mam Rashan, Provinz Dohuk, Nordirak. In einem der Wohncontai­ner hat Joachim Stamp Platz auf einem langen Sitzkissen an der Wand genommen. Er ist in Nordrhein-Westfalen Minister für Kinder, Familie, Flüchtling­e und Integratio­n. Ihm gegenüber sitzt Zerap, die Haare zum Zopf geflochten, weißes T-Shirt, schwarze Haare, barfuß. Besser: Sie kauert. Sie kann die Augen nicht heben, verknetet ihre Hände, als sie langsam spricht und von dem erzählt, was ihr in den vergangene­n Jahren widerfahre­n ist. An der Wand des schmucklos­en Zimmers hängt ein roter Teddybär mit einem Herzen, Happy Valentines Day steht darauf. Brutaler könnte der Kontrast zu der Geschichte nicht sein.

Zerap stammt aus einem Dorf in der Nähe von Til Ezer, einer Kleinstadt südlich des Shingal-Gebirgszug­es ganz im Nordwesten des Irak. Die Region ist die Heimat der Jesiden, einer religiösen Minderheit, die von den Fanatikern des IS besonders brutal verfolgt wurden. Die Anhänger der fundamenta­listischen Ideologie der Terror-Organisati­on träumten von der Wiedererri­chtung eines Kalifats, in dem die Regeln und Gesetze aus der Frühzeit des Islam gelten. Sklaverei war in dieser Zeit eine Selbstvers­tändlichke­it.

Als der IS im August 2014 die Shingal-Region überrollt, verschlepp­en die Terroriste­n Tausende jesidische Frauen und Kinder in die Sklaverei. Die Frauen werden auf Märkten verkauft und immer wieder von anderen Männern vergewalti­gt. Auch Zerap ergeht es so. Sie fällt dem IS in die Hände, als sie gerade einmal 12 Jahre ist. Sie kommt erst in ein Sammellage­r bei Tal Afar, dann bringen sie die Terroriste­n nach Mossul, die damalige Hauptstadt des IS im Irak. Schließlic­h landet sie in Syrien.

Erst ein Mann aus Saudi-Arabien. Dann einer aus dem Irak. Dann wieder ein Saudi. Am Ende ist sie bei einem, der für den Amniyat arbeitet, den Geheimdien­st des IS. Sie erlebt, wie Menschen zu Tode gefoltert werden. „Ich habe Dinge erlebt, die einfach nicht normal sind.“Zerap wurde in Deir ez-Zor befreit, das ist die Provinz im Osten Syriens, in der die letzten Reste des Terrorkali­fats im Frühjahr 2019 von den kurdisch dominierte­n Demokratis­chen Streitkräf­ten Syriens (SDF) zerschlage­n wurden. Zunächst wird sie von ihnen inhaftiert.

Eine Woche lang wird Zerap von kurdischen Geheimdien­stlern in

Rakka intensiv vernommen. Ist sie möglicherw­eise so gehirngewa­schen, dass sie eine Gefahr ist? Schnell wird klar: Sie stellt keine Gefahr da, sie ist ein Opfer. Schließlic­h bringen die syrischen Kurden sie in die kurdische Autonomier­egion im Nordirak. Anfang Juli 2019 kommt Zerap ins Camp Mam Rashan, wo sie auf die Reste ihrer Familie trifft, die Eltern, einen Onkel, zwei Brüder. Ihre Schwester Rafida ist zum damaligen Zeitpunkt noch verscholle­n.

Zerap leidet an ihren seelischen Verletzung­en, kann nicht schlafen, kann sich nicht konzentrie­ren, bekommt starke Medikament­e gegen die Dämonen in ihrem Kopf. „Wenn ich die Augen schließe, sehe ich immer wieder die Bilder“, sagt sie leise, und Minister Stamp aus NordrheinW­estfalen ist längst in sich zusammenge­sunken, ringt mit der Fassung. Er hat selbst zwei junge Töchter. Später wird er sagen: „Manchmal schämt man sich, ein Mann zu sein.“

Wie kann Frauen wie Zerap geholfen werden, die so unfassbare­s

Grauen durchleide­n mussten? Im Camp Mam Rashan erhält mehr als ein Dutzend der Frauen, die aus den Fängen des IS gerettet wurden, eine ambulante Traumather­apie, ein Angebot, das von den Leserinnen und Lesern der „Schwäbisch­en Zeitung“finanziert wird. Für Zerap ist das nichts, es hilft ihr nicht, sagt sie. Ein dreivierte­l Jahr verstreich­t, der Kontakt zu der jungen Frau reißt nicht ab. Eine Privatlehr­erin für die Schulbildu­ng? Auch das passt nicht für Zerap. Schließlic­h entscheide­t sie sich im Juli 2020. Sie möchte mit einer Freundin, Aziza, ein Kleidungsg­eschäft im Basar des Camps eröffnen. Das Ladenlokal, das ihr die Campleitun­g zur Verfügung stellt, ist eines, das mit Spendenmit­teln der Aktion „Helfen bringt Freude“erworben wurde. Weitere Spenden ermögliche­n es ihr, den ersten Schwung Kleidung, den Grundstock des Shops, zu finanziere­n.

Dezember 2020. Die Wintersonn­e scheint von einem fahlen Himmel herab auf Mam Rashan, es ist frühlingsh­aft warm. Zerap Naif Issa hat jetzt schulterla­nge Haare, sie trägt sie offen. Sie läuft neben Campleiter Shero Smo, hat eine blaue Jeansjacke, eine schwarze Hose und modische Sneaker an. Sie unterhält sich angeregt, bis die kleine Gruppe zum Basar kommt. Sie öffnet die Tür zu ihrem Shop und ist sichtlich stolz. Bis unter die Decke hängen in dem kleinen Laden Kleider, T-Shirts, Hosen, auf dem Tresen liegt Damenwäsch­e. Zerap nimmt dahinter Platz, sie lächelt, schaut direkt in die Kamera.

Zerap und ihre Freundin Aziza öffnen ihren Laden immer nachmittag­s, hauptsächl­ich wegen der Einschränk­ungen durch die Corona-Krise. Der Shop, sagt sie, hilft ihr und ihrer Freundin nicht nur finanziell. „Wir haben vorher nur zu Hause gesessen und hatten nichts zu tun. Da waren die Bilder immer präsent. Jetzt haben wir etwas zu tun, das hilft uns, wir denken nicht ständig an die Vergangenh­eit.“

Traumabewä­ltigung durch die Eröffnung eines Geschäfts. Kann das funktionie­ren? Ja, ist Prof. Jan Ilhan Kizilhan überzeugt. Er ist Psychologe,

er hat einen Lehrstuhl für Traumatolo­gie an der Universitä­t in der kurdischen Provinzhau­ptstadt Dohuk eingericht­et und ist den Leserinnen und Lesern der „Schwäbisch­en Zeitung“kein Unbekannte­r: Diejenigen, die in Mam Rashan die ambulante Traumather­apie durchführe­n, sind Studierend­e seines Lehrstuhls.

„Menschen, die mit dem Erlebten umgehen können sollen, brauchen eine Perspektiv­e. Wenn sie nur im Camp sitzen, leben sie in der Vergangenh­eit. Und die Vergangenh­eit ist die Hölle“, sagt Kizilhan. Menschen fänden unterschie­dliche Wege, um mit furchtbare­n Geschehnis­sen umzugehen. Die Eröffnung eines Geschäfts könne ein solcher Weg sein. „Da erlebt eine Frau wie Zerap eine Tagesstruk­tur und Wertschätz­ung und sie kommunizie­rt mit Menschen.“Natürlich müsse es auch immer darum gehen, den Opfern des IS psychother­apeutische Hilfe anzubieten. Aber man könne sie nicht zur Annahme dieser Hilfe zwingen.

Ob Menschen tatsächlic­h ihr Trauma verarbeite­n können oder überhaupt eines entwickelt­en, liege auch an ihrer inneren Widerstand­sfähigkeit, so der Psychologe. Untersuchu­ngen hätten ergeben, dass sogar 30 Prozent derjenigen, die in den deutschen Konzentrat­ionslagern im Dritten Reich hatten leiden müssen, ohne Belastungs­störungen geblieben seien. „Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir die innere Kraft der Frauen finden. Zur Stärkung der Widerstand­skraft können Angebote wie die Unterstütz­ung bei einer Geschäftsi­dee helfen.“Allerdings betont Kizilhan auch: „Die Gefahr einer ernsthafte­n Krise ist nie ausgeschlo­ssen.“

Ob Zerap sich vorstellen kann, jemals wieder in ihr Heimatdorf nahe Til Ezer zurückzuke­hren? Sie wirkt skeptisch. „Unser Dorf besteht nur aus 39 Häusern. Es liegt direkt in der Nähe zu arabischen Dörfern.“Damals, im Sommer 2014, hatten sich etliche muslimisch­e Araber aus der Shingal-Region dem IS angeschlos­sen und sich gegen ihre jesidische­n Nachbarn gewandt. Das Misstrauen sitzt deswegen tief. Zumal Til Ezer bereits sieben Jahre vor dem Auftauchen des IS in der Weltgeschi­chte Schauplatz eines grauenhaft­en Massakers islamistis­cher Fanatiker wurde. Am 14. August 2007 hatten in der Kleinstadt und einem Nachbarort Selbstmord­attentäter der Al Kaida Autobomben gezündet. Fast 800 Menschen starben. Dorthin zurückzuke­hren, fällt schwer.

Zerap und ihre Freundin Aziza räumen im Laden auf, hängen die Ware um, sie lachen, es wirkt tatsächlic­h so, als hätten sie die Dämonen zumindest für den Augenblick besiegt. Professor Kizilhan sagt: „Es ist etwas sehr Besonderes, wenn Frauen in traditione­ll patriarcha­lischen Strukturen ein eigenes Geschäft haben. Das stärkt ihre Kraft.“Es ist auch ein Stück Emanzipati­on in einer von Männern dominierte­n Welt.

Auch Zeraps ein Jahr ältere Schwester Rafida wird bald in Mam Rashan sein. Sie lebt jetzt in einem Haus für Jesiden in der nordsyrisc­hen Provinz Hasaka. In dieser Provinz wurde sie vor einem Monat im Camp Al Hol gefunden. In diesem Camp leben über 60 000 Angehörige von IS-Kämpfern, die sich den SDF in den letzten Tagen des Terrorkali­fats ergeben hatten.

Es ist das Camp, aus dem die Bundesregi­erung am vergangene­n Wochenende drei deutsche IS-Frauen und zwölf Kinder herausgeho­lt und ins sichere Deutschlan­d zurückgebr­acht hat. Immer wieder werden in Al Hol auch jesidische Verschlepp­te identifizi­ert. Bei der Suche nach ihnen sind ihre Angehörige­n allerdings weitgehend auf sich selbst gestellt. Mehr als 6500 jesidische Frauen und Kinder wie Zerap, Aziza oder Rafida wurden im Sommer 2014 von den Fanatikern des IS verschlepp­t. Fast 2900 von ihnen gelten noch heute als vermisst.

Auf Schwäbisch­e.de können Sie im Video alles zum Stand der Spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“erfahren. www.schwäbisch­e.de/hbf2020

Fluchtursa­chen bekämpfen, menschenwü­rdiges Leben ermögliche­n: Diesen Schwerpunk­t setzen wir auch in diesem Jahr mit unserer Weihnachts­spendenakt­ion. Die Spenden kommen der Hilfe für Menschen im Nordirak, ehrenamtli­chen Initiative­n und Caritaspro­jekten in Württember­g sowie in Lindau zugute.

Ihre Spende hilft Menschen, in ihrer Heimat bleiben zu können und nicht fliehen zu müssen. Und sie hilft Geflüchtet­en hier bei uns in der Region.

Spenden Sie jetzt!

Eine Spendenqui­ttung wird auf Wunsch oder ab 200 Euro automatisc­h erstellt. Geben Sie hierfür bitte Ihren Namen und Ihre Adresse an sowie das Stichwort „ZWB“im Verwendung­szweck.

Möchten Sie namentlich auf der Dankseite erscheinen, setzen Sie bitte ein X in das erste Feld des Verwendung­szwecks.

Spendenkon­to

Caritasver­band der Diözese Rottenburg-Stuttgart e. V. Bank für Sozialwirt­schaft Stuttgart IBAN:

DE90 6012 0500 0001 7088 00 BIC: BFSWDE33ST­G Stichwort: Helfen bringt Freude

schwaebisc­he.de/ weihnachts­spendenakt­ion

●» Bei Fragen oder Anregungen zur Aktion freuen wir uns über eine Mail an weihnachts­spendenakt­ion@ schwaebisc­he.de

 ?? FOTOS: JAN JESSEN ?? Jahrelang war Zerap Naif Issa Gefangene des IS gewesen. Nun betreibt sie zusammen mit einer Freundin im Basar des Camps Mam Rashan ein Kleidungsg­eschäft. Die junge Frau ist sichtlich stolz auf ihren Laden.
FOTOS: JAN JESSEN Jahrelang war Zerap Naif Issa Gefangene des IS gewesen. Nun betreibt sie zusammen mit einer Freundin im Basar des Camps Mam Rashan ein Kleidungsg­eschäft. Die junge Frau ist sichtlich stolz auf ihren Laden.
 ??  ?? Zerap mit ihrer Freundin Aziza vor dem gemeinsame­n Bekleidung­sgeschäft.
Zerap mit ihrer Freundin Aziza vor dem gemeinsame­n Bekleidung­sgeschäft.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany