Gränzbote

Start in die stille Nacht

Vor 100 Jahren wurde die erste Radiosendu­ng ausgestrah­lt – Die Post machte die Musik

- Von Reinhold Mann

Die erste Radiosendu­ng in Deutschlan­d war ein Weihnachts­konzert. Die Museen für Kommunikat­ion in Berlin und Frankfurt, auch unter dem früheren Namen „Postmuseum“bekannt, nutzen das Jubiläum, um eine Ausstellun­g „100 Jahre Radio“ins Netz zu stellen. Sie erinnert an die erste Sendung, die am 22. Dezember 1920 ausgestrah­lt wurde. „Reichspost­mitarbeite­nde der Hauptfunks­telle Königs Wusterhaus­en haben auf Streichins­trumenten, Harmonium, Klavier und Klarinette, Stille Nacht, Heilige Nacht intoniert“, schreiben Berliner Museumsmit­arbeitende zu ihrer Ausstellun­g.

Sie fällt in den Bereich der leichten Muse. Die Erzählung der 100 Radiojahre ist locker und mit leichter Hand gestrickt. Wieso die erste Sendung aus Königs Wusterhaus­en südlich von Berlin kam, bleibt daher schon mal erklärungs­bedürftig: Dort war 1911 auf einer Anhöhe die „Zentralfun­kstelle des Heeres“errichtet worden. Auf die Vorgeschic­hte der Technik wie die militärisc­he Nutzung des Funkverkeh­rs im Ersten Weltkrieg wird nicht eingegange­n. Das ist ein Handikap der Präsentati­on. Das zweite: Die gesellscha­ftliche Organisati­on des Rundfunks bleibt ebenfalls unterbelic­htet. So kommt die starke staatliche Komponente, die dieses Medium bis heute prägt, nicht zur Sprache. Es scheint, als sei sie eine Selbstvers­tändlichke­it.

Zu den technische­n Voraussetz­ungen gibt es nur den schlichten Hinweis, dass im Jahre 1900 die beiden Erfinder Nikolo Tesla und Gugliemo Marconi Patente für Funkverkeh­r angemeldet hatten. Zum Thema Marconi hätte gerade die Museumssti­ftung Post und Telekommun­ikation eigentlich Interessan­tes anzubieten, was aber nicht genutzt wird. Denn einen Apparat für die „Marconi-Marine-Kommunikat­ion“hatte die 1912 gesunkene Titanic an Bord. Das Postmuseum besitzt ein ganzes Paket von Telegramm-Zetteln für den Funkverkeh­r, die den Verlauf der Unglücksna­cht des Dampfers vom 14. April dokumentie­ren. Sie halten die Kommunikat­ion des Funkers auf der Titanic mit anderen Schiffen im Nordatlant­ik fest. Es beginnt mit Glückwunsc­htelegramm­en von den Ozeandampf­ern derselben britischen

Reederei, deren Kapitäne zur Dinnerzeit ihrem Kollegen Smith und seiner Titanic auf der Jungfernfa­hrt „viel Erfolg“wünschen. Andere Schiffe machen vorsorglic­h exakte Angaben über den Eisberg, der die Titanic auf ihrem Kurs erwartet. Aber der Funker arbeitet, bevor er diese weiterleit­et, erst mal die Telegramme der festlich gestimmten Passagiere an Bord ab.

Um 23.50 Uhr, zehn Minuten nach dem Zusammenst­oß, sehen die Telegrammz­ettel hektisch aus. Auch die Reaktionen der anderen Schiffe: Der Kapitän des entgegenko­mmenden Schwesters­chiffs Olympic meldet, er lasse alle Kessel für Volldampf aufheizen und eile herbei, so schnell er könne. Leider war er 500 Seemeilen entfernt.

Die internatio­nale Vernetzung, die der Funkverkeh­r in der Unglücksna­cht so exemplaris­ch demonstrie­ren könnte, kennzeichn­et die Hochphase des Imperialis­mus. Sie hat auch die Entwicklun­g der Funktechni­k forciert. Bei der deutschen Industrie und der Politik entstand die Idee, dem britischen Kabelnetz rund um die Welt ein deutsches „Weltfunkne­tz“gegenüberz­ustellen. Der Gedanke einer internatio­nalen

Konkurrenz im organisato­rischen Schultersc­hluss von Industrie und Reichsführ­ung erklärt dann auch, warum der Rundfunk als staatlich gesteuerte Organisati­on auf Sendung ging, selbst als das Kaiserreic­h untergegan­gen war. Schließlic­h hätte sie ja auch als Geschäftsi­dee eines innovative­n Unternehme­ns wie der Marconi-Seefunk Erfolg haben können.

In der Weimarer Republik war der Rundfunk dem Postminist­erium unterstell­t. Die Ausstellun­g versucht erst gar nicht, die komplexe Geschichte nachzuerzä­hlen, wie der Postminist­er die staatliche Kontrolle des neuen Mediums ausübte, die Mitsprache der Länder über eigene Funkhäuser gewährleis­tete, die Interessen gesellscha­ftlich einflussre­icher Kreise moderierte, um einen von Parteilich­keit unbeeinflu­ssten Nachrichte­nstrom zu gewährleis­ten. Ein mit 26 Personen besetzter Aufsichtsr­at sollte dafür sorgen, dass – wie ein Kritiker damals schrieb – „in den Nachrichte­nbrei kein Körnchen politische­n Gewürzes gerate“. Wobei aber jede einzelne Person, die im Aufsichtsr­at saß, geneigt war, „ganze Hände voll scharfen Gewürzes in den Kochtopf zu schmuggeln“.

Die Ausstellun­g konzentrie­rt sich lieber darauf, unverfängl­iche Höhepunkte im Rundfunkle­ben aneinander zu reihen, wie den Auftritt Albert Einsteins als Festredner zur Eröffnung der Funkausste­llung 1930. Der grüßte, heiter gestimmt, erst mal „die An- wie die Abwesenden“und mahnte dann: „Wenn ihr den Rundfunk hört, so denkt daran, wie die Menschen in den Besitz des wunderbare­n Werkzeugs der Mitteilung gekommen sind“.

Das Publikum, die wachsende Zahl der Hörer, die das wunderbare Werkzeug mit ihren Gebühren finanziert­e, war jedoch in der Organisati­on des Rundfunks nicht vertreten. Der Historiker Winfried B. Lerg, der sich mit der Geschichte des Mediums befasst hat, weist darauf hin, dass die Radiohörer keinerlei Einwirkung­smöglichke­iten hatten: Sie „waren machtlos“. Als dann 1933 der langjährig­e Rundfunkko­mmissar der Reichspost angesichts der neuen Machthaber kapitulier­te und den Rücktritt von seinem Lebenswerk erklärte, konnten die Nationalso­zialisten ein entwickelt­es System übernehmen. Lerg schreibt: „Weder das Medium noch seine Hörerschaf­t hatten die Möglichkei­t gehabt zu lernen, wie man einem totalitäre­n Zugriff wirksam Widerstand entgegense­tzen kann“.

 ?? FOTO: FOTO: MUSEUMSSTI­FTUNG POST UND TELEKOMMUN­IKATION ?? Der Sender der Großfunkst­elle der Deutschen Reichspost in Königs Wusterhaus­en startete am 22. 12. 1920 mit einem Weihnachts­konzert in die Rundfunkze­it. Dies ist die Außenansic­ht des Senderhaus­es 1.
FOTO: FOTO: MUSEUMSSTI­FTUNG POST UND TELEKOMMUN­IKATION Der Sender der Großfunkst­elle der Deutschen Reichspost in Königs Wusterhaus­en startete am 22. 12. 1920 mit einem Weihnachts­konzert in die Rundfunkze­it. Dies ist die Außenansic­ht des Senderhaus­es 1.
 ?? FOTO: MUSEUMSSTI­FTUNG POST UND TELEKOMMUN­IKATION ?? Postmitarb­eiter gestaltete­n das erste Radiokonze­rt. Das Bild zeigt Musiker bei einem Sonntagsko­nzert in der Dienstwohn­ung in Königs Wusterhaus­en.
FOTO: MUSEUMSSTI­FTUNG POST UND TELEKOMMUN­IKATION Postmitarb­eiter gestaltete­n das erste Radiokonze­rt. Das Bild zeigt Musiker bei einem Sonntagsko­nzert in der Dienstwohn­ung in Königs Wusterhaus­en.

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