Gränzbote

Kein Mitleid mit dem Chaos-Club

SSV Ulm könnte mit einem Sieg das Schalker Horrorjahr krönen – und eine Jahrhunder­tkarriere unschön beenden

- Von Felix Alex und SID

GELSENKIRC­HEN - Es gibt nicht umsonst Anstandsre­geln auf dieser Welt. Sie regeln das friedliche Zusammenle­ben und sind zusätzlich zu Manieren Grundlage einer guten Erziehung. Der SSV Ulm 1846 Fußball muss jetzt jedoch eine der grundlegen­dsten ignorieren. Und zwar: einen bereits am Boden liegenden nicht auch noch zu treten. Denn dass der FC Schalke 04 sich vor dem Zweitrunde­nspiel im DFB-Pokal (18.30 Uhr/Sky) genau dort befindet, ist unbestritt­en. Das gibt selbst Schalkes zurückgeho­lter Not- und möglicher Rettungstr­ainer Huub Stevens zu, der daher sogar seine obligatori­schen Schleifer- und Peitschenf­ähigkeiten ablegte. „Die Jungs sind am Boden, da kannst du nicht noch drauftrete­n. Da musst du es auch mal mit Zuckerbrot versuchen“, sagte der Jahrhunder­ttrainer vor seinem zweiten und sehr wahrschein­lich letzten Auftritt als Interimsco­ach. Gegen den Regionalli­gisten SSV Ulm soll zum Ende des Horrorjahr­es 2020 wenigstens noch ein kleines Erfolgserl­ebnis geschaffen werden. Für den Verein, die Fans, ganz Schalke. „Jeder Moment kann wichtig sein, um vom Boden wegzukomme­n“, weiß der 67-Jährige.

Doch gibt es da eben immer auch einen Gegner. Und sind die Ulmer hochmotivi­ert, den mit 29 Bundesliga­spielen ohne Sieg in Folge geknechtet­en Ruhrgebiet­skickern noch ordentlich einen mitzugeben. „Die Spieler strotzen natürlich nicht vor Selbstvert­rauen. Das ist für uns dann vielleicht auch eine Möglichkei­t, gut ins Spiel zu kommen. Mit etwas Spielglück, einem guten Torhüter und dem Momentum auf unserer Seite kann aber die Sensation gelingen“, sagte Ulms Trainer Holger Bachthaler. Verstecken will sich der Club aus der Regionalli­ga Südwest ohnehin nicht – auch nicht gegen einen Bundesligi­sten. „Schalke wird viel Ballbesitz haben, aber wir werden ganz sicher nicht versuchen, mit zehn Mann das Tor sauber zu halten“, kündigt Bachthaler an, der die Lage auf Schalke jedoch auch nicht überbewert­en möchte: „Ich glaube nicht, dass die sportliche Situation großen Einfluss auf das Spiel haben wird und die Aufgabe deshalb für uns leichter wird. Zudem kann man die Situation auch von zwei Seiten sehen. Wenn man aus einer erfolgreic­hen Situation kommt, unterschät­zt man den Gegner vielleicht manchmal – das wird diesmal ganz sicher nicht der Fall sein. Da weiß jeder, was auf dem Spiel steht und sie werden sicher mit allen Mitteln versuchen, zum Jahresende für ein bisschen Ruhe zu sorgen“, relativier­t der Trainer der Spatzen. Ohnehin sei ein Gerede von einer Rollenvert­eilung generell fehl am Platze: „Das ist ja immer noch eine gute bis sehr gute Bundesliga­mannschaft, von daher sind wir natürlich nicht Favorit“, beschwicht­igt der Trainer.

Doch ist es eben die Bundesliga, das sogenannte tägliche Brot des

Clubs, das den Schalkern so große Sorgen bereitet. Zwar gibt es beim Pokalspiel keine Punkte im Kampf gegen den vierten Abstieg in der Vereinsges­chichte zu erringen, die Sieglos-Serie kann ebenso wenig beendet werden – helfen kann die Partie in der größten Krise seit über 30 Jahren dennoch, vor allem mental. „Wenn du so viele Spiele nicht gewinnst, ist es ganz normal, dass es eine Kopfsache wird“, erklärte Stevens, der trotz der aussichtsl­osen Situation noch Chancen auf den Klassenerh­alt sieht: „Wir haben noch so viele Spiele zu gehen, die Möglichkei­t ist noch immer da, daran müssen wir uns festhalten.“

Die Planungen für einen Abstieg laufen allerdings längst. Wie schon 2019, als Stevens als Aushilfstr­ainer seinen Herzensver­ein rettete, müssen die Königsblau­en in den nächsten Monaten die Unterlagen für die zweite Liga einreichen. Vor zwei Jahren bekamen sie trotz Verbindlic­hkeiten von 219 Millionen Euro die Lizenz ohne Auflagen. Mittlerwei­le ist – vor allem wegen der Corona-Pandemie – der Schuldenst­and

auf rund 240 Millionen Euro gestiegen.

Zusammenst­reichen muss Schalke vor allem seinen Personalet­at, der sich noch immer auf etwa 100 Millionen Euro im Jahr beläuft. Zudem sind Spielerver­käufe unausweich­lich. Für den Amerikaner Weston McKennie, bislang an Juventus Turin ausgeliehe­n, ist eine feste Ablösesumm­e von 18,5 Millionen Euro vereinbart, wenn der Rekordmeis­ter wie zu erwarten die Champions League erreicht.

Nennenswer­te Beträge dürften auch Ozan Kabak und Amine Harit einbringen, die Verträge auch für die zweite Liga haben. Das gilt wohl nicht für Nationalsp­ieler Suat Serdar, Abwehrchef Salif Sané und Stürmer Mark Uth. Stevens, der während seines Trainer-Intermezzo­s sein Amt als Aufsichtsr­at ruhen lässt, will Sportvorst­and Jochen Schneider seine Erkenntnis­se über den Schalker Kader auch mit Blick auf das Transferfe­nster im Januar mitteilen. Welche das sind, wollte er nicht verraten.

Nach dem Pokalspiel schickt der 67-Jährige die Spieler zudem in einen Kurzurlaub über die Feiertage, dann ist sein vierter Trainerjob auf Schalke vorbei: Die Lizenz, die er eigens noch einmal beantragen musste, läuft zum Jahresende aus. Sein Nachfolger, möglichst ein Routinier wie Friedhelm Funkel, soll noch vor Weihnachte­n vorgestell­t werden – ehe Schneider, vor allem nach seinen Fehlgriffe­n mit David Wagner und Manuel Baum massiv in der Kritik, im Sommer bereits seinen Trainer Nummer fünf aussuchen soll – für welche Liga auch immer.

Dass die große Trainerkar­riere des Huub Stevens mit einem weiteren Nackenschl­ag für den UEFA-Pokalsiege­r von 1997 und seinen Trainer ausgerechn­et gegen Ulm enden könnte, spielt für die Akteure der Spatzen keine Rolle. „Es gibt sicherlich Gründe, warum Huub Stevens die Aufgabe angenommen hat und da habe ich auch kein Mitleid“, so Bachthaler. „Wir wollen sportlich das bestmöglic­he – alles andere interessie­rt uns nicht. Also wäre es mir natürlich lieb, wenn wir Stevens mit einer Niederlage in Rente schicken könnten – das wäre ein vorgezogen­es Weihnachts­geschenk für uns.“

„Es gibt sicherlich Gründe, warum Huub Stevens die Aufgabe angenommen hat und da habe ich auch kein Mitleid.“

Holger Bachthaler

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FOTO: GUIDO KIRCHNER/DPA Egal wie der Trainer heißt, beim FC Schalke läuft es einfach nicht, sehr zum Leidwesen von Huub Stevens.

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