Zweifelhafte Atteste für Querdenker
Wie ein Arzt aus dem Kreis Biberach die Corona-Folgen verharmlost und damit Schüler womöglich in Gefahr bringt
WARTHAUSEN - Eigentlich sollten sie wenigen schwerkranken Menschen vorbehalten sein: Atteste zur Befreiung von der Maskenpflicht. Doch Anhänger der Querdenker-Bewegung nutzen das Schlupfloch für ihre politischen Interessen. Und mancher Arzt lässt sich gerne instrumentalisieren, wie ein Fall aus Warthausen zeigt.
Von seinem Sprechzimmer aus im Ortsteil Birkenhard sieht Rudolf Haug eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. Bei Corona kreisen seine Gedanken um die Menschen, die in der Krise alleine sind oder vor lauter Angst nicht mehr schlafen können. Vor allem aber um die Menschen, die unter ihrer Maske leiden. Als Psychotherapeut hat er beschlossen, den Leidenden zu helfen. Die Welt ein kleines bisschen besser machen. Seine Kritiker aber – und das sind viele – sagen, dass Menschen wie Rudolf Haug alles nur noch schlimmer machen.
An einigen Schulen im Landkreis Biberach ist der Facharzt aus Warthausen bereits bekannt. Für seine Atteste zur Befreiung von der Maskenpflicht. Nach eigenen Angaben hat der Arzt seit Beginn der Pflicht etwa 60 bis 70 solcher Schreiben ausgestellt, rund die Hälfte davon für Schüler.
Ärzte, die so handeln wie Haug, seien „die schwarzen Schafe“, meint Elke Ray. Sie leitet die Direktorenvereinigung Süd-Württemberg und ist Rektorin am Gymnasium in Ochsenhausen. Scherzhaft bezeichnet sie sich als „Klassensprecherin unter den Schulleitern“. Doch nach Scherzen ist ihr nicht zumute. Die CoronaAuflagen haben die Schulen vor neue Herausforderungen gestellt: Die Schüler müssen Maske tragen, auf dem Schulhof, auf den Gängen und im Klassenzimmer. Von der Pflicht befreit sind lediglich Kinder, denen dies „aus gesundheitlichen oder sonstigen zwingenden Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist“, heißt es in der Landesverordnung.
Natürlich gebe es Fälle, in denen ein Kind tatsächlich keine Maske aufziehen könne, sagt Ray. Bei schweren Behinderungen, Atemwegserkrankungen oder psychischen Erkrankungen etwa. Einmal habe sie von einem Kind gehört, das unter Asthma litt. Die Lungenfachärzte hätten den Eltern geraten, dass ihr Kind dennoch eine Maske tragen soll. „Eltern, deren Kinder wirklich unter einer Vorerkrankung leiden, zeigen sich sehr verantwortungsvoll“, erzählt Ray aus ihrer Erfahrung.
Doch sie habe auch das Gegenteil davon erlebt: Eltern, die offenbar aus ideologischen Gründen eine Maske für ihr Kind ablehnen. Die Zahl schätzt Ray auf unter ein Prozent. „Die Nerven, die Kraft und der Aufwand, den das kostet, ist im Verhältnis dazu aber enorm.“Ebenso wie die Gefahr, die von Maskenverweigerern ausgehe. Besonders dann, wenn in einer Klasse auch Kinder mit Vorerkrankungen seien oder Lehrer, die zur Risikogruppe zählen.
Um auf die Maske verzichten zu können, müssen die Schüler Atteste vorlegen. Ein großer Teil davon stammt offenbar von Rudolf Haug. Die Schulleiter sind alarmiert, das Regierungspräsidium hat in einem Schreiben vom 8. Oktober festgestellt, dass die Atteste von ihm nicht mehr akzeptiert werden sollen. Es bestünden „Zweifel“an den Schriftstücken.
Haug gibt sich empört. „Ich kann die Leute doch nicht im Stich lassen“, sagt er. In seinem Sprechzimmer in Birkenhard herrscht wohlige Wärme, ein Feuer knistert im Kaminofen. Hier empfängt er seine Patienten. Die, die ihm als Experten vertrauen. Haug hat in Tübingen Medizin studiert, er ist Facharzt für psychotherapeutische Medizin. Sein Terminkalender ist voll, nicht alle kämen wegen der Corona-Kollateralschäden, wie er die Folgen der Pandemie bezeichnet. Aber die Angst vor dem Virus sei in vielen Gesprächen ein Thema.
Obwohl er ohnehin mehr als genug Patienten habe, habe er nun weitere hinzubekommen. Wenn er erzählt, wie es dazu kam, beginnt er in Bergamo. Mit den Bildern aus der italienischen Stadt, in der die CoronaToten von der Armee aus der Stadt gekarrt werden mussten. „Das war emotional furchtbar schlimm“, erzählt er. Er sei schließlich kein „Corona-Leugner“, wie es ein anonymer Rezensent auf seinem Google-Profil beklagt hat. Dennoch halte er das Virus lange nicht für so gefährlich, wie die Mehrheit denke. Er betrachte schließlich die nüchternen Zahlen.
Das meiste Wissen über Corona habe er sich im Internet angeeignet. Im Frühjahr begann er damit, sich näher mit der Pandemie zu beschäftigen und stieß dabei auch auf die Videos von Sucharit Bhakdi, einem der ideologischen Wegbereiter der Querdenker-Bewegung. Auch Bodo Schiffmann habe ihn überzeugt. Schiffmann wurde im Magazin „Der Spiegel“einmal als „Leitfigur der Corona-Verschwörungstheoretiker“bezeichnet. Seine Thesen wurden mehrfach von zahlreichen Experten widerlegt.
Auch Rudolf Haug glaubt nicht an eine große Verschwörung, aber er zweifelt an den bestehenden Fakten. Seine Gespräche lenkt Haug rasch auf Übersterblichkeitszahlen, Ansteckungsraten und Todesfälle. Selbst wenn Statistiken immer wieder das Gegenteil beweisen, ist Haug überzeugt: „Es gibt zurzeit keine Übersterblichkeit.“Belege dafür findet er zahlreich im Internet. Corona sei vor allem „eine Angstpandemie“, die Schutzmaßnahmen der Regierenden in Europa übertrieben und Masken im Zweifel eher schädlich.
Bereits im Frühjahr trug er sich daher auf einer Liste ein von „Medizinern und Wissenschaftlern für Gesundheit, Freiheit und Demokratie“, einem Verein der sich gegen die Corona-Beschränkungen stellt. Haug bot an, Atteste gegen das Maskentragen auszustellen. „Der Ansturm, der folgte, hat mich sehr überrascht“, sagt er heute.
Aus dem gesamten süddeutschen Raum seien Menschen zu ihm nach Warthausen gekommen, die sich ein Attest ausstellen lassen wollten. Haug betont, er habe jeden einzelnen der Patienten angehört und psychologisch untersucht. „Es gab Erwachsene, denen ich kein Attest ausgestellt habe“, beteuert er. Bei den Kindern aber, deren Eltern sich ein Attest gewünscht hätten, habe er in allen Fällen das auch ausgestellt. „Die Argumente konnte ich immer nachvollziehen.“
Zwei Geschwisterkinder aus Bayern hätten zum Beispiel als Symptome „Kopfschmerzen, ungewöhnliche und anhaltende Müdigkeit, Lustlosigkeit, Passivität und sozialer Rückzug“genannt. Bei einem Kind sei ein Neurodermitis-Ausschlag hinzugekommen. „Diese psychischen Beschwerden sind eigentlich die Diagnosekriterien für eine psychische Störung“, sagt Haug. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie bei einer Depression anhaltend seien und „ohne äußeren Anlass, das heißt ohne Maske“. Er diagnostizierte dennoch eine „depressive Entwicklung“und vermerkte im Attest: „Insgesamt muss festgestellt werden, dass das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes bei der Person zu einer erheblichen gesundheitlichen Schädigung führt.“Die Kinder könnten aufgrund der Maske sogar „dauerhaft geschädigt“werden.
Die Atteste aber wurden nicht anerkannt. Die Eltern seien sogar vor das Verwaltungsgericht gezogen, ohne Erfolg. Das Gericht bewertete die Beschwerden lediglich als mögliche „psychische und physische Begleiterscheinungen“des Maskentragens.
Haug sagt, er vertraue seinen Patienten, und fügt hinzu: „Natürlich kann man mich aber auch reinlegen. Es kann durchaus sein, dass der eine oder andere darunter war, der mir Geschichten erzählt hat und dann vielleicht ein Attest bekommen hat, obwohl’s nicht gestimmt hat, das kann ich nicht ausschließen.“Als Therapeut sei er darauf angewiesen, dass seine Patienten ihm die Wahrheit erzählen. Doch auch weil er selbst überzeugt sei von der Gefahr der Masken, etwa durch zu viel CO2 im Blut, glaube er den Schilderungen seiner Patienten. Die Maskenpflicht sei ohnehin nur eine „Beruhigungspille“.
Ortswechsel: Dietrich Rothenbacher kennt die Argumente der Maskengegner. Der Leiter des Instituts für Epidemiologie in Ulm stellt klar: „Diese sind aber weder seriös noch belegbar. Alle wissenschaftliche Experten widersprechen dem klar.“Wissenschaftlich belegt sei dagegen der Nutzen der AHA-Regeln, also Abstand, Hygiene und Alltagsmasken.
Jüngste Untersuchungen belegten, dass Masken das Infektionsrisiko um etwa 40 Prozent verringern können. Auch eine Übersterblichkeit bei Personen über 65 Jahren lasse sich inzwischen klar aus den Statistiken ablesen, besonders in den Regionen, in denen es viele CoronaFälle gibt.
Er selbst kenne niemanden, der an Corona erkrankt sei, sagt Haug. So schwer die Schicksale für einzelne seien, Haug verweist immer wieder auf Statistiken. Die Hoffnung, die bald für viele Menschen nahen soll, hält er dabei für das größere Übel im Vergleich zum Virus: Selbst wenn Ärzte bevorzugt würden, wolle er sich unter keinen Umständen gegen das Virus impfen lassen. Mit seinen Thesen gegen das Maskentragen, das Impfen und die Corona-Auflagen hält Haug nicht hinterm Berg: Auf seiner Homepage hat er seitenweise Links und Behauptungen dazu zusammengetragen. Er wolle die Debatte zu den Themen anstoßen, die er bisher in der Öffentlichkeit vermisse. Um mehr Diskussion zu wagen, wage er sich selbst aus der Deckung.
Mit seinen Thesen aber eckt er immer wieder an. In einer Sitzung des Warthausener Gemeinderats, in dem er Mitglied ist, behauptete er vor einiger Zeit, Corona sei nicht schlimmer als eine Grippe. Daraufhin erntete er vor allem Kopfschütteln bei den Ratsmitgliedern. Auch der Epidemiologe Rothenbacher stellt klar: „Ohne Zweifel ist die Sterblichkeit von einer Covid-19-Erkankung viel höher als bei einer Grippe.“
Möglicherweise hat Haug nun weitreichendere Reaktionen als nur Kopfschütteln und Widerspruch zu befürchten: „Das Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse, dazu gehören auch Gefälligkeitsatteste, ist ein Straftatbestand“, erklärt die Landesärztekammer Baden-Württemberg. Eingehende Beschwerden würden geprüft, zu einzelnen Personen wolle sich die Kammer jedoch nicht äußern.
Auch die Kassenärztliche Vereinigung BadenWürttemberg (KVBW) prüft Fälle von Ärzten, die falsche Atteste ausstellen. Insgesamt habe sich die Ärzteschaft „bisher vorbildlich verhalten“, erklärt Kai Sonntag, Sprecher der KVBW. Das baden-württembergische Sozialministerium schließt sich dieser Sichtweise an und spricht lediglich von „vereinzelten Ärzten“, die leichtfertig oder ganz ohne Untersuchung Atteste gegen die Maskenpflicht ausstellen.
Der Schaden sei dennoch groß: In den Krankenhäusern ringen Menschen um ihr Leben, täglich sterben Patienten an den Folgen einer Corona-Infektion. Diese Fakten seien unstrittig. „Der beste Freund des Virus aber ist derjenige, der es nicht ernst nimmt“, betont der KVBW-Sprecher Sonntag. Umso mehr bedauere die Vereinigung, wenn einzelne Ärzte die Situation „verharmlosen“und sich „damit gegen alle wissenschaftliche Erkenntnis wenden“.
„Alle wissenschaftliche Experten widersprechen dem klar.“
Dietrich Rothenbacher vom Institut für Epidemiologie in Ulm zu den Argumenten der Masken-Gegner
„Ich kann die Leute doch nicht im Stich lassen.“
Psychotherapeut Rudolf Haug