Aus Liebe zur Blasmusik
Aus Rot an der Rot kommen die Noten für die Laienorchester – Der Musikverlag Rundel ist Deutschlands wichtigster Herausgeber
Von Benjamin Wagener
ROT AN DER ROT - Der frühere Stall des schon lange geschlossenen Gasthofs Hirsch im oberschwäbischen Reichenbach ist seit Monaten verwaist. Schon lange standen die hellen Holzstühle nicht mehr im Halbrund ausgerichtet auf das Dirigentenpult von Theo Gnann. Denn seit Jahren nutzt das beschauliche Dörfchen bei Bad Schussenried den Raum nicht mehr für die Beherbergung von Kühen: 2009 umgebaut zum Probelokal ist der Stall die Heimat des Musikvereins Reichenbach. Auch wenn die Proben ruhen, die Konzerte wegen der Corona-Pandemie in diesem Jahr ausgefallen sind, stehen die 70 aktiven Musiker wie kein anderer Verein für das Leben und den Stolz Reichenbachs – und die Musiker sind ein Beispiel für eine besondere, vor allem im Süden Deutschlands verwurzelte Tradition: die Blasmusik mit ihren Tausenden von Orchestern, die in Baden-Württemberg und Bayern über das ganze Land verteilt sind und nicht selten aus so kleinen Gemeinden wie Reichenbach kommen.
Hinter der Musik, den Konzerten und den Erfolgen der Laienmusiker steht aber nicht zuletzt ein ganz spezielles Unternehmen, ohne das sich die Blasmusik seit den 1960er-Jahren nicht so hätte entwickeln können, wie sie es getan hat: der Musikverlag Rundel aus Rot an der Rot im Landkreis Biberach. „Gerade für uns Laienmusiker ist der Verlag sehr wichtig, weil er für alle spielbare Noten herausbringt – und uns berät, welche Stücke machbar sind und welche eben nicht“, sagt der Reichenbacher Dirigent Theo Gnann.
Rot an der Rot, ein weißes, lang gezogenes Haus mit vielen Fenstern in einem Wohngebiet. In der ersten Etage des Verlags sitzen Stefan und Thomas Rundel an einem Tisch in der Kaffeeecke. Seit dem Tod ihres Vaters im Jahr 2009 haben die Brüder die Verantwortung für Unternehmen und Mission Siegfried Rundels übernommen. Einer Mission, die sich in der Wertschätzung von Dirigenten wie Theo
Gnann widerspiegelt.
Siegfried Rundel gründete seinen Verlag im Jahr 1964 und machte ihn in den folgenden Jahren zu Europas wichtigstem Verlag für Blasmusikliteratur. Grundlage: seine eigene Sozialisierung im Musikverein. Aufgewachsen in Bussmannshausen bei Schwendi, spielte er Posaune in seinem Heimatdorf, erlebte, wie mehrere Generationen gemeinsam musizieren, der Bauer neben dem Schlosser und dem Postmann sitzt. „Dieses faszinierende Element hat unser Vater immer gesehen, vor allem aber: Er hat sich ganz tief mit dem Basismusikalischen im Musikverein identifiziert“, sagt Thomas Rundel über den 1940 geborenen Oberschwaben, der das Geschäftsmodell des Verlags genau darauf ausrichtete. „Laienmusiker brauchen spielbares Notenmaterial, darum ging es ihm“, erläutert Stefan Rundel.
Nicht die Eltern fördern das Musiktalent in Siegfried Rundel, es ist der Dirigent des Musikvereins in Bussmannshausen, der ihn anleitet. Nach einer Werkzeugmacherlehre fängt er mit 17 Jahren bei Bosch in Stuttgart an. Statt in der Stadt zu wohnen, bezieht er aber ein Zimmer im kleinen Schönaich bei Böblingen im Haus des Musikverlegers Hans Freivogel, in dessen Kapelle er auch Posaune spielt. „Dort wohnte er drei Jahre und hat die Verlagsarbeit miterlebt“, erzählt Stefan Rundel. Dem Vater sei es von Anfang an leichtgefallen, sich die Musik zu erschließen, laufend habe er Fortbildungen besucht und sich weitergebildet. „Das Ulmer Musikhaus Reisser war sein Eldorado, er hat viel Zeit dort verbracht und Noten gelesen“, sagt Stefan Rundel. Und als der Musikverein Rot an der Rot irgendwann einen Dirigenten gesucht hat, sei er empfohlen worden. „Bei den Fortbildungen sitzt immer so ein Junger dabei, aber ein richtig Guter“, beschreibt Stefan Rundel die Szene, die seinen Vater wieder in die Heimat nach Oberschwaben führte.
Im Alter von 21 Jahren übernimmt Siegfried Rundel als Dirigent die Kapelle in Rot an der Rot – und erlebt eine Zeit des Aufbruchs. Zwar haben die Kapellen schon bald nach dem Krieg wieder angefangen, Musik zu machen, aber „die Blasmusik war durch die Ära des Nationalsozialismus beschmutzt“, sagt Thomas Rundel. Erst nach und nach etabliert sie sich wieder, und die Orchester bestimmen in vielen Gemeinden Süddeutschlands das Dorfleben.
Siegfried Rundel dirigiert, komponiert und beginnt 1964 mit der Verlagsarbeit – zuerst noch im Nebenerwerb. Im Hauptjob arbeitet er weiter als Werkzeugmacher beim Maschinenbauer Magnet-Schulz in Memmingen. Vor allem handelt Rundel in der Zeit mit Noten, die er sorgsam auswählt, von anderen Verlagen bezieht und an die Laienorchester in Baden-Württemberg und Bayern verkauft. „1968 ist er zu seinem Chef gegangen und hat gekündigt“, erzählt der 48-jährige Stefan Rundel. Es war ein Schritt in die berufliche Ungewissheit, geleitet von der Liebe zur Blasmusik. „Er hat immer gesagt, wir müssen für unsere Sache kämpfen“, erzählt Stefan Rundel weiter, bevor ihm sein drei Jahre älterer Bruder Thomas ins Wort fällt. So sehr die beiden die Mission ihres Vaters teilen, so begeistert, ungestüm und leidenschaftlich berichten sie auch von ihr. „Blasmusik ist nicht Ernst Mosch und die Egerländer, es ist mehr. Er wollte aus dieser Schublade raus. Ihm ging es darum, alle Möglichkeiten auszunutzen, die ein Blasmusikorchester spielen kann“, erklärt Thomas Rundel.
Der Verleger erweitert sein Programm, beginnt die großen Meister der Musikgeschichte für Blasmusik zu arrangieren, arbeitet mit Autoren zusammen, deren Blasmusikkompositionen er verlegt. Das Programm umfasst heute sakrale Musik, symphonische Stücke, Unterrichtsliteratur, Rock-, Pop- und Swing-Stücke, volkstümliche und traditionelle böhmisch-mährische Blasmusik sowie Bearbeitungen klassischer Werke von Bach über Beethoven und Mozart bis Wagner. 80 Prozent der Noten sind Eigenproduktionen, der Rest sind Lizenzen bekannter Stücke. „Mein Vater hat auch immer genau hingehört, was ist der große Oktoberfestoder Fasnetshit, und dann hat er sich die Rechte besorgt, sich hingesetzt und das für Blasmusikensembles arrangiert“, erzählt Stefan Rundel. Musikalisch gesehen, „ist die Blasmusik ja eine echte Allzweckwaffe“, fügt Bruder Thomas an. „In kleiner oder großer Besetzung, in der Kirche, im Festzelt, auf dem Friedhof, auf der Fasnet, alles funktioniert.“Mehr als 10 000 Artikel hat der Verlag in seinem Onlineshop, davon sind allein 3500 eigens für den Verlag komponierte Werke.
Auch einer der größten Hits der Blasmusik hat der Musikverlag Rundel in seinem Programm. Und Siegfried Rundel habe das Potenzial beim ersten Hören erkannt, wie sich Stefan Rundel erinnert. Der Verleger hörte die Polka „Böhmischer Traum“des gebürtigen Weingarteners Norbert Gälle in der Radiosendung von Georg Ried, dem Blasmusikexperten des Bayerischen Rundfunks. Gälle, der Tenorhorn bei der Scherzachtaler Blasmusik spielt, hatte das Stück 1999 mit seiner Kapelle aufgenommen. „Mein Vater rief Gälle an und fragte, ob er sich vorstellen könnte, die Noten des Stücks zu veröffentlichen“, erinnert sich Stefan Rundel. Auch Norbert Gälle erinnert sich an den Anruf. „Zwei Stunden hat Siegfried Rundel auf mich eingeredet, zuerst wollte ich das Stück nicht hergeben“, erzählt der Musiker. „Ich hatte Angst, dass es jeder verhunzt, jetzt bin ich froh, dass ich es gemacht habe.“Mittlerweile nennen Menschen aus aller Welt das Stück die „Nationalhymne der Blasmusiker“. 2019 war die Polka auf Rang sieben in den Top Ten der Stücke, die am meisten vor Publikum gespielt wurden.
„Unser Geschäft basiert vor allem auf Originalkompositionen, die wir zusammen mit unseren Autoren erarbeiten“, erläutert Thomas Rundel. Er ist 1986 in den Verlag eingestiegen und führt ihn seit 2001 gemeinsam mit seinem Bruder. Das Entscheidende sei die Qualität: bei Notengrafik, Partituren und Stimmen, aber vor allem bei den Kompositionen selbst. „Der örtliche Musikverein muss die Gewissheit haben, das Stück ist geprüft und ist spielbar“, erläutert Thomas Rundel.
Es ist genau die Eigenschaft, die Dirigenten wie der Reichenbacher Theo Gnann an dem Verlag in Rot an der Rot schätzen. „Es gibt halt nicht nur studierte Dirigenten, sondern auch gewachsene, die in ihrer musikalischen Laufbahn in die Leitungsfunktionen hineingekommen sind – und die brauchen Beratung“, erläutert der 67-Jährige. „Und genau das machen die Rundels sehr gut.“Auch indem sie viele der angebotenen Musikstücke von professionellen Orchestern einspielen lassen, um ihren Kunden Referenzaufnahmen zu bieten. „Ein Verlag, der das nicht macht, würde sich schwertun“, erklärt Stefan Rundel. „Die Dirigenten haben oft nicht mehr so viel Zeit, um sich in die Partituren einzulesen, sondern wollen eine Aufnahme, um sich das Musikstück vorstellen zu können.“
Wichtigste Märkte für den Musikverlag Rundel sind neben Deutschland die Schweiz, Österreich und Südtirol, aber auch Italien, Frankreich und Skandinavien. Mit 20 Mitarbeitern erwirtschaften Thomas und Stefan Rundel einen Jahresumsatz im einstelligen Millionenbereich. „Wir hatten immer ein schönes Wachstum, wir waren immer profitabel und eigenfinanziert“, sagt Thomas Rundel. „Und bis zu diesem Frühjahr, bis Corona hätte ich nie gedacht, dass wir mal in so eine Krise reinrutschen.“Denn in der Regel sei es immer so gewesen, dass die Menschen in schlechten Zeiten sich auf ihre Hobbys besannen und wieder zu ihren Instrumenten griffen.
Die Krise in Zeiten der CoronaPandemie ist eine andere. Keine Musik, keine Proben, kein Vereinsleben – überall müssen die Kapellen pausieren. Für den Musikverlag Rundel ist das eine Tragödie, die mit sinkenden Umsätzen einhergeht. „Unsere Bestimmung ist es, Noten herauszugeben, bei denen alle Generationen gemeinsam Musik machen“, sagt Thomas Rundel. Ohne Corona hätten Blasmusiker in ganz Deutschland dafür in diesen Tagen zur Sammlung „27 Lieder zur Weihnachtszeit“gegriffen, die Siegfried Rundel 1982 arrangiert hat. „Er hat sich damals gesagt, ich brauche Lieder, die zu allen Anlässen gespielt werden können“, sagt Stefan Rundel. „Mit der Arbeit hat er etwas für die Ewigkeit geschaffen.“Es ist die mit Abstand wichtigste Zusammenstellung von Weihnachtsliedern für Bläserensembles.
Auch in Reichenbach hätten Theo Gnann und der Musikverein Reichenbach die Lieder von Siegfried Rundel heute gespielt. An zehn verschiedenen Orten in dem kleinen Dorf mit seinen 700 Einwohnern.