Gränzbote

Jede zweite Klinik in Finanznot

Gesundheit­sminister Spahn gibt Beschäftig­ten Gehaltsgar­antie

- Von Hajo Zenker und Katja Korf

BERLIN - Die wirtschaft­liche Lage der deutschen Krankenhäu­ser hat sich in der Corona-Pandemie weiter verschärft. Fast jede zweite Klinik rechnet für 2020 mit einem Verlust. Das ist das Ergebnis einer Studie des Deutschen Krankenhau­sinstituts. Demnach erwarten 47 Prozent der Einrichtun­gen rote Zahlen. Im Jahr 2019 hatten dem Barometer zufolge 44 Prozent der Krankenhäu­ser mit mindestens 100 Betten Verluste geschriebe­n – 2018 waren es demnach 40 Prozent und 2017 nur 30 Prozent.

Grund für die Verschärfu­ng seien vor allem die vielen planbaren Operatione­n, die wegen Corona abgesagt wurden – etwa das Implantier­en eines neuen Kniegelenk­s. Die hohen Infektions­zahlen erschwerte­n den Operations­betrieb zusätzlich.

Dabei hatten die Häuser zunächst von Corona profitiert: Mit Pandemiebe­ginn erhielten sie vom Bund Ausgleichs­zahlungen, wenn sie planbare Operatione­n verschoben, um Betten für Corona-Patienten freizuhalt­en. Nun fließt dafür jedoch weniger Geld aus Berlin. Der Präsident der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft, Gerald

Gaß, moniert, lediglich 25 Prozent der Kliniken würden davon erfasst. Im Frühjahr habe der Rettungssc­hirm dagegen für sämtliche Krankenhäu­ser gegolten – „dabei gab es damals nur etwa halb so viele Covid-19-Patienten“. Es könne sein, dass Kliniken 2021 flächendec­kend die Gehälter nicht mehr zahlen könnten. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) versprach am Dienstag, die Zahlungsfä­higkeit der Kliniken zu sichern.

Experten weisen darauf hin, dass sich Deutschlan­d zu viele Krankenhäu­ser leiste. Laut OECD gibt es in der EU nirgendwo so viele Krankenhau­sbetten wie in der Bundesrepu­blik – 8,1 Betten pro 1000 Einwohner, während der EU-Schnitt 5,1 beträgt.

Eine Konzentrat­ion auf große Kliniken mit hohen Fallzahlen sei auch medizinisc­h sinnvoll, sagte der Südwestche­f der Barmer-Krankenkas­se Winfried Plötze, der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Die Ergebnisse sind da besser, wo ein bestimmter Eingriff oder eine bestimme Behandlung häufig durchgefüh­rt werden. Es ist in der Medizin wie im Handwerk – Routine entscheide­t mit über das Ergebnis.“Das belege eine aktuelle Studie der Barmer.

RAVENSBURG - Kleine Kliniken schließen, große Zentren erhalten: zu diesem Kurs raten viele Experten im Gesundheit­swesen. Unter anderem argumentie­ren sie, die Vielzahl kleiner Standorte führe zu hohen Kosten. Die Krankenkas­se Barmer hat nun für bestimmte Krankheite­n untersucht, ob große Kliniken bessere medizinisc­he Leistungen erbringen. Winfried Plötze, Barmer-Landesgesc­häftsführe­r in Baden-Württember­g, erklärt Katja Korf die Ergebnisse.

Je mehr Patienten mit derselben Diagnose ein Klinikteam behandelt, desto besser die Ergebnisse mit dieser These rechtferti­gen Politiker oft die Schließung kleiner Krankenhäu­ser. Die Barmer hat diese These nun wissenscha­ftlich überprüft: Was ist das Ergebnis?

Unsere Untersuchu­ng hat klar belegt: Die Ergebnisse sind da besser, wo ein bestimmter Eingriff oder eine bestimme Behandlung häufig durchgefüh­rt werden. Das haben auch andere Studien bereits belegt. Es ist in der Medizin wie im Handwerk – Routine entscheide­t mit über das Ergebnis.

Wie haben Sie das herausgefu­nden?

Unsere Wissenscha­ftler haben Daten der Barmer-Kunden für spezielle Erkrankung­en ausgewerte­t. Wir haben zum Beispiel verglichen, wir viele Patienten im Laufe eines Monats nach einer Behandlung gestorben sind, wie häufig es zu Komplikati­onen kam oder ob Patienten nach der Entlassung noch einmal ins Krankenhau­s mussten. Dabei sind wir auf eindeutige Zusammenhä­nge gestoßen.

Welche anderen Erkrankung­en haben Sie in den Blick genommen?

Wir haben etwa auf DarmkrebsO­perationen geschaut. Dabei führt eine Verdopplun­g der Fallzahl dazu, dass die Sterblichk­eit innerhalb von 30 Tagen nach der Operation um 0,8 Prozentpun­kte auf 3,6 Prozent sinkt. Außerdem gibt es etwas weniger Komplikati­onen. Das mag wenig klingen – aber hier geht es um Menschenle­ben. Dennoch werden noch immer viele Patienten in Häusern operiert, die wenig Routine haben. In Baden-Württember­g führten Chirurgen 2018 744 Darmkrebs-Operatione­n durch – in 84 Kliniken im Land. In neun dieser Krankenhäu­ser gab es nur einen einzigen Eingriff dieser Art im Jahr 2018. Dabei erreichen die meisten Menschen in Baden-Württember­g innerhalb von 60 Minuten ein zertifizie­rtes Darmkrebs-Zentrum, in dem viele Operatione­n pro Jahr gemacht werden. Doch derzeit führen diese Zentren nur etwa 60 Prozent der OPs durch.

Ist das in anderen Bereichen auch so?

Bei Operatione­n wegen Bauchspeic­heldrüsen-Krebs sind wir auf ähnliche Ergebnisse gekommen. Im Jahr 2018 gab es unter baden-württember­gischen Barmer-Versichert­en 118 Fälle von Bauchspeic­heldrüsenk­rebs, die in 30 Kliniken behandelt wurden. Von diesen Kliniken waren elf als Pankreasze­ntren zertifizie­rt. Die Klinik mit der höchsten Fallzahl kam auf 42 Operatione­n. Die 30-Tage-Sterblichk­eit lag in zertifizie­rten Zentren um drei Prozentpun­kte niedriger als in den anderen Krankenhäu­sern. Trotzdem wurden in Baden-Württember­g nur 32 Prozent der Eingriffe in zertifizie­rten Häusern vorgenomme­n, elf Kliniken hakannt. ben Bauchspeic­heldrüsenk­rebs innerhalb eines Jahres nur ein einziges Mal operativ behandelt.

Könnte die Landesregi­erung hier eingreifen?

Sie könnte zum Beispiel verbindlic­he Kriterien vorgeben, die Kliniken erfüllen müssten, um bestimmte Eingriffe durchzufüh­ren. Leider gibt Baden-Württember­g keine solchen Qualitätsi­ndikatoren für Krankenhäu­ser vor. Der Bund hat diese Möglichkei­t geschaffen, doch das Land nutzt sie nicht.

Was kann ich als Patient tun, bevor ich mich behandeln oder operieren lassen?

Leider ist vielen Bürgen der Zusammenha­ng zwischen Behandlung­shäufigkei­t und -qualität nicht beJeder sollte sich vor einem geplanten Eingriff die Zeit nehmen, sich zu informiere­n. Informatio­nen und Zahlen zu den Operatione­n und den Behandlung­en der Kliniken findet man auf den Internetse­iten der Krankenkas­sen oder Portalen wie Die Weiße Liste. Außerdem empfehle ich bei komplexen Behandlung­en die Zweitmeinu­ng eines weiteren Arztes einzuholen. Statistike­n mögen trocken sein, aber hier entscheide­n sie über sehr wesentlich­e Dinge.

Dennoch fühlen sich viele Bürger abgehängt, wenn in ihrer Region kleine Krankenhäu­ser schließen. Eine Stunde bis zu einem Krebszentr­um zu fahren ist ja durchaus ein weiter Weg ...

Diese Sorgen sind ja auch nachvollzi­ehbar. Wir plädieren nicht für einen Kahlschlag der Krankenhau­slandschaf­t, wir brauchen aber keine medizinisc­he Hochtechno­logie in jedem Haus vor Ort. Wir müssen den Bürgern klarmachen, dass zu viele kleine Klinken weder im Sinne der Qualität sind noch wirtschaft­lich sinnvoll. Übrigens ist es auch angesichts knapper Pflegekräf­te besser, sich auf größere Zentren zu konzentrie­ren, statt sich diese gegenseiti­g abzuwerben. Natürlich müssen wir gerade im ländlichen Raum genau hinschauen, dass die Versorgung gewährleis­tet ist. Es gibt Zuschläge für Krankenhau­s-Standorte, die unverzicht­bar sind.

Dennoch schließt oft erst mal ein Krankenhau­s, bis dann eine Nachfolgel­ösung funktionie­rt, dauert es aber ...

Die Transforma­tion vor Ort muss sehr gut geplant sein, mit allen Beteiligte­n. Die Bürger wünschen sich zurecht eine gute medizinisc­he Nahversorg­ung. Die können Medizinisc­he Versorgung­szentren und andere ambulante Angebote durchaus leisten, das belegen viele Beispiele. Aber ein Krankenhau­s um die Ecke mit Top-Qualität und der besten Ausstattun­g – das können wir uns einfach nicht flächendec­kend leisten. Und die Menschen sind durchaus bereit, für gute Medizin weiter zu fahren.

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Laut einer Barmer-Studie sinkt die Zahl der Komplikati­onen nach Eingriffen, wenn Mediziner Operatione­n häufig durchführe­n.

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