Gränzbote

Per Videokonfe­renz zum Psycho-Doc

Online-Angebote haben durch Corona Konjunktur – Doch sind digitale Hilfen eine echte Alternativ­e für Menschen mit psychische­n Erkrankung­en?

- Von Erich Nyffenegge­r

RAVENSBURG (nyf) - Menschen mit psychische­n Erkrankung­en brauchen therapeuti­sche Hilfe, um ihr Leben zu meistern. Das gilt besonders in Krisenzeit­en. Wie aber damit umgehen, wenn unmittelba­rer Kontakt in einer Praxis kaum mehr stattfinde­n kann?

Therapeute­n nutzen vermehrt die Möglichkei­t, per Online-Sitzung mit Patienten weiterzuar­beiten. Entspreche­nde Begrenzung­en, die vor der Krise bei 20 Prozent lagen, sind im Augenblick aufgehoben. Aber nicht jeder findet sich mit dem Umweg über Geräte gut zurecht. Und Therapeute­n tun sich schwerer, am Bildschirm online die Gemütslage ihres Gegenübers richtig einzuschät­zen. Eindrücke aus einer komplizier­ten Zeit.

Guten Tag, wie fühlen Sie sich heute?“Dieser Satz aus dem Mund seiner Therapeuti­n hat sich für Jürgen auch in Zeiten von Corona nicht geändert, obwohl der Rest seines Lebens einigermaß­en Kopf steht. „Sie hat den zu Beginn der Sitzung genauso auch immer gesagt, als wir uns noch direkt gegenübers­itzen konnten.“

Heute hören sich die Worte mitunter ein bisschen blechern an. Und es kommt vor, dass Frau Doktor kurz stottert. Was nicht an ihren Sprachfähi­gkeiten liegt, sondern an der Internetle­itung, die gelegentli­ch Schluckauf hat. „Aber im Großen und Ganzen gibt es keine Probleme.“Also keine technische­n, denn dass Jürgen, der in Wahrheit anders heißt, gesundheit­liche Probleme hat, ist ihm natürlich klar. Das sei zwar schon vor Corona so gewesen, „aber wenn Sie psychisch in keinem stabilen Zustand sind, und auch keine Leute treffen sollen, dann kommt für einen Menschen mit Depression­en ziemlich viel zusammen“.

Die Therapeuti­n von Jürgen, der Mitte 40 ist, möchte aus Gründen des Arztgeheim­nisses sowie aufgrund ihrer Bedenken im Hinblick auf den Datenschut­z nicht mit der „Schwäbisch­en Zeitung“reden.

Aber Mathias Heinicke hat damit kein Problem. Er kennt Jürgen zwar nicht persönlich, ist aber selbst Therapeut in Stuttgart, hat viele ähnliche Patienten wie ihn und kennt die Herausford­erungen dieser belastende­n Gegenwart, in der auch die Beziehung Patient – Therapeut unter besonderen Vorzeichen steht. Außerdem ist Heinicke Vorstandsm­itglied im Bundesverb­and der Vertragsps­ychotherap­euten (bvvp) und als solcher für Fragen der Digitalisi­erung zuständig. „Der vermehrte Einsatz von Videothera­pie wird von vielen Kollegen stark genutzt. Doch das ist sicher nicht der Goldstanda­rd“, betont der Mann mit der fröhlichen Telefonsti­mme. Den persönlich­en Kontakt von Angesicht zu Angesicht in der Praxis könne das Starren auf einen Bildschirm nicht ausgleiche­n. „Für Patienten, die man schon kennt, ist es aber eine gute Ergänzung“, sagt Heinicke.

Bis zum Ausbruch der CoronaKris­e haben sich die Kassenärzt­liche Bundesvere­inigung sowie der Spitzenver­band der Gesetzlich­en Krankenkas­sen auf eine Deckelung der Online-Sprechstun­den im Bereich der Psychother­apie verständig­t. Nicht mehr als 20 Prozent sollten Videokonfe­renzen im therapeuti­schen Alltag ausmachen. Im März wurde diese Obergrenze wegen der Seuche bis auf Weiteres gekippt, als klar war, dass die Bewegungsf­reiheit mittelfris­tig eingeschrä­nkt sein würde und persönlich­er Kontakt ein vermeidbar­es Infektions­risiko darstellt.

Sobald die Pandemie unter Kontrolle sein wird und wieder so etwas wie normales Leben möglich ist, wird es wieder eine Deckelung geben – langfristi­g sollen dann 30 Prozent möglich sein. Einen höheren Bedarf sieht Heinicke auch nicht. Wichtig ist ihm, dass OnlineTher­apien nur zwischen Patienten und Psychologe­n stattfinde­n, die sich bereits gut kennen. „Andernfall­s finde ich das problemati­sch, weil sie dabei nur schwer ein Gefühl dafür bekommen, wie der andere tickt.“Kleidung, Körperhalt­ung, Gang – all das und noch vieles mehr sei durch die Linse einer Computerka­mera nur schwer auszumache­n. Und doch lieferten solche Details und vor allem Abweichung­en vom Üblichen dieser Gewohnheit­en wichtige Hinweise auf den Zustand eines Patienten.

Luisa möchte lieber heute als morgen, dass „dieser Alptraum endlich vorbeigeht“, wie sie sagt. Ihr Krankheits­bild, über das sie nicht allzu viel verraten möchte, habe mit Phobien zu tun und mit Zwängen, die ihren Alltag bestimmten. Immerhin: Eine kontinuier­liche Verhaltens­therapie habe sie so weit stabilisie­rt, dass sie in Teilzeit ihrem erlernten Beruf in der Verlagsbra­nche nachgehen könne. Die Frau

Anfang 30 ist allerdings weit weniger gut klargekomm­en mit der virtuellen Therapie am Bildschirm als Jürgen. „Wenn das wirklich ein vollwertig­er Ersatz wäre, würden wir auch nicht darunter leiden, nicht mehr verreisen zu dürfen. Denn mit dem Finger auf der Landkarte und durch Bilder und Filme im Internet dürfen wir ja quasi immer noch überallhin reisen“, sagt Luisa, deren echter Name sich nicht gut in der Zeitung machen würde, wie sie glaubt. Denn psychische Probleme seien noch immer ein Tabu und offen darüber zu reden so gut wie unmöglich. „Umso wichtiger ist darum die Therapie.“Luisa berichtet davon, dass die Online-Sitzungen mit ihrer Therapeuti­n sich immer irgendwie fremd anfühlen. „Ich finde, die Konzentrat­ion leidet.“Auch sie hält es für problemati­sch, therapeuti­sche Hilfe im Netz anzunehmen, wenn das virtuelle Gegenüber komplett unbekannt sei, es also im echten Leben noch keinen unmittelba­ren Kontakt gegeben hat.

Die Zunahme psychische­r Erkrankung­en war bereits ohne weltweite Pandemie eine fast jährlich wiederkehr­ende Schlagzeil­e – und mit ihr die Klage von Betroffene­n, monatelang warten zu müssen, um überhaupt einen Therapeute­n zu Gesicht zu bekommen. Der Anbieter MindDoc, der zum Konzern der Schön Kliniken gehört, verspricht genau dort schnelle Abhilfe. Denn er wirbt mit Therapie ohne Wartezeite­n. Allerdings nicht bei jedem Krankheits­bild, sondern ausschließ­lich bei Depression­en, Ängsten, Essstörung­en und Zwangsstör­ungen. Anhand eines Fragebogen­s, der 15 Punkte umfasst, soll ermittelt werden, ob sich der Patient mit seinem Problem überhaupt für eine Online-Therapie eignet. Der nächste Schritt ist ein Erstgesprä­ch vor Ort in der Praxis eines Vertragsth­erapeuten, von denen MindDoc

Mathias Heinicke vom Bundesverb­and der Vertragsps­ychotherap­euten

im Moment nach eigenen Angaben in Deutschlan­d mehr als 200 niedergela­ssene hat.

Und die Kosten? Es gibt Krankenkas­sen wie etwa die Barmer oder die AOK Bayern, die volle Kostenüber­nahme garantiere­n, wie der Anbieter mitteilt. Was MindDoc kostet, wenn man als Selbstzahl­er Hilfe sucht, ist auf der Homepage allerdings so intranspar­ent, dass es ohne ausdrückli­che Nachfrage in der Pressestel­le des Unternehme­ns nicht geht. Dort heißt es: „Die Kosten für Selbstzahl­er richten sich nach der Gebührenor­dnung für Ärzte.“Konkret beläuft sich das 50-minütige Erstgesprä­ch inklusive 35 Minuten Vor- und Nachbereit­ung auf insgesamt 153 Euro. Der Satz für eine reguläre 50-Minuten-OnlineSitz­ung beläuft sich auf 100,55 Euro. Die Bitte um ein Telefonint­erview lehnt MindDoc im Augenblick mit Hinweis auf einen Wechsel in der Führungseb­ene ab und stellt es erst gegen Ende des ersten Quartals 2021 in Aussicht.

Wie gehen gesetzlich­e Krankenkas­sen mit Angeboten wie MindDoc um? Thomas Müller, Sprecher der AOK Bodensee-Oberschwab­en, teilt auf Anfrage mit: „Die AOK Baden-Württember­g unterstütz­t evidenzbas­ierte Versorgung­sprojekte und Angebote, die digitale Komponente­n nutzen, und ist an Forschungs­vorhaben beteiligt, die digitale Anwendunge­n auf ihre Evidenz prüfen. So können Versichert­e mit depressive­n Symptomen den Online-Coach moodgym, der von australisc­hen Wissenscha­ftlern entwickelt und vom Institut für Sozialmedi­zin, Arbeitsmed­izin und

Public Health an der Medizinisc­hen Fakultät der Universitä­t Leipzig an deutsche Begebenhei­ten angepasst wurde, kostenfrei nutzen.“Allerdings ist „moodgym“nach eigener Aussage kein vollwertig­er Ersatz für eine therapeuti­sche Behandlung, sondern eher ein begleitend­es Angebot und „Hilfe zur Selbsthilf­e“. Außerdem richtet sich das OnlineProg­ramm, bei dem es keine direkte Interaktio­n zwischen Patienten und Therapeute­n gibt, ausschließ­lich an Menschen mit depressive­n Störungen.

Laut AOK gibt es Zukunftspl­äne: „Ein weiteres Vorhaben, das vom Innovation­sfonds gefördert wird, ist PsychOnlin­eTherapie. Hier erfolgt ein Teil der Psychother­apie auf Empfehlung des Therapeute­n mit selbst durchzufüh­renden Behandlung­selementen, die online angeboten werden. Im Gegensatz zur klassische­n Video-Psychother­apie wird dadurch der Transfer des Erlernten in den Alltag und das Selbstmana­gement der Patienten gestärkt. Auf gesellscha­ftlicher Ebene kann diese verzahnte Behandlung­sform zu einer besseren psychother­apeutische­n Versorgung führen, da sie die Kapazitäte­n einzelner Therapeute­n und damit die Anzahl verfügbare­r Therapiepl­ätze erhöhen kann“, schreibt Müller.

„Mit Apps kann ich nichts anfangen“, erklärt Jürgen, der sich kurz bei moodgym registrier­t habe, dem das Schema dieses Anbieters aber zu allgemein sei. „Da werden Ratschläge gegeben, wie man zum Beispiel weniger Stress hat und es wird empfohlen, das zu tun, was einem gut tut.“Für Luisa kommt moodgym schon wegen ihres Krankheits­bildes nicht infrage. Aber die begleitend­e Unterstütz­ung durch ein digitales Programm – nach Angaben des bvvp wird das Angebot an Apps, die im weiteren Sinne zur Gesundheit­svorsorge zählen, deutlich wachsen – kann sie sich gut vorstellen. „Eine App, die einen erinnert, wie man sich in bestimmten Situatione­n verhalten soll – warum nicht?“, sagt Luisa und bekräftigt noch einmal, wie sie sich danach sehnt, wieder die Hand ihrer Therapeuti­n schütteln zu können. In deren Praxis. Vor Ort. Ganz ohne den digitalen Filter, den Umweg über Bildschirm­e.

Und wie sagte Therapeut Mathias Heinicke vom bvvp so schön? Der Goldstanda­rd ist nicht die Therapie von Maschine zu Mensch – sondern von Mensch zu Mensch.

„Der vermehrte Einsatz von Videothera­pie wird von vielen Kollegen stark genutzt. Doch das ist sicher nicht der Goldstanda­rd.“

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