Per Videokonferenz zum Psycho-Doc
Online-Angebote haben durch Corona Konjunktur – Doch sind digitale Hilfen eine echte Alternative für Menschen mit psychischen Erkrankungen?
RAVENSBURG (nyf) - Menschen mit psychischen Erkrankungen brauchen therapeutische Hilfe, um ihr Leben zu meistern. Das gilt besonders in Krisenzeiten. Wie aber damit umgehen, wenn unmittelbarer Kontakt in einer Praxis kaum mehr stattfinden kann?
Therapeuten nutzen vermehrt die Möglichkeit, per Online-Sitzung mit Patienten weiterzuarbeiten. Entsprechende Begrenzungen, die vor der Krise bei 20 Prozent lagen, sind im Augenblick aufgehoben. Aber nicht jeder findet sich mit dem Umweg über Geräte gut zurecht. Und Therapeuten tun sich schwerer, am Bildschirm online die Gemütslage ihres Gegenübers richtig einzuschätzen. Eindrücke aus einer komplizierten Zeit.
Guten Tag, wie fühlen Sie sich heute?“Dieser Satz aus dem Mund seiner Therapeutin hat sich für Jürgen auch in Zeiten von Corona nicht geändert, obwohl der Rest seines Lebens einigermaßen Kopf steht. „Sie hat den zu Beginn der Sitzung genauso auch immer gesagt, als wir uns noch direkt gegenübersitzen konnten.“
Heute hören sich die Worte mitunter ein bisschen blechern an. Und es kommt vor, dass Frau Doktor kurz stottert. Was nicht an ihren Sprachfähigkeiten liegt, sondern an der Internetleitung, die gelegentlich Schluckauf hat. „Aber im Großen und Ganzen gibt es keine Probleme.“Also keine technischen, denn dass Jürgen, der in Wahrheit anders heißt, gesundheitliche Probleme hat, ist ihm natürlich klar. Das sei zwar schon vor Corona so gewesen, „aber wenn Sie psychisch in keinem stabilen Zustand sind, und auch keine Leute treffen sollen, dann kommt für einen Menschen mit Depressionen ziemlich viel zusammen“.
Die Therapeutin von Jürgen, der Mitte 40 ist, möchte aus Gründen des Arztgeheimnisses sowie aufgrund ihrer Bedenken im Hinblick auf den Datenschutz nicht mit der „Schwäbischen Zeitung“reden.
Aber Mathias Heinicke hat damit kein Problem. Er kennt Jürgen zwar nicht persönlich, ist aber selbst Therapeut in Stuttgart, hat viele ähnliche Patienten wie ihn und kennt die Herausforderungen dieser belastenden Gegenwart, in der auch die Beziehung Patient – Therapeut unter besonderen Vorzeichen steht. Außerdem ist Heinicke Vorstandsmitglied im Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (bvvp) und als solcher für Fragen der Digitalisierung zuständig. „Der vermehrte Einsatz von Videotherapie wird von vielen Kollegen stark genutzt. Doch das ist sicher nicht der Goldstandard“, betont der Mann mit der fröhlichen Telefonstimme. Den persönlichen Kontakt von Angesicht zu Angesicht in der Praxis könne das Starren auf einen Bildschirm nicht ausgleichen. „Für Patienten, die man schon kennt, ist es aber eine gute Ergänzung“, sagt Heinicke.
Bis zum Ausbruch der CoronaKrise haben sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung sowie der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen auf eine Deckelung der Online-Sprechstunden im Bereich der Psychotherapie verständigt. Nicht mehr als 20 Prozent sollten Videokonferenzen im therapeutischen Alltag ausmachen. Im März wurde diese Obergrenze wegen der Seuche bis auf Weiteres gekippt, als klar war, dass die Bewegungsfreiheit mittelfristig eingeschränkt sein würde und persönlicher Kontakt ein vermeidbares Infektionsrisiko darstellt.
Sobald die Pandemie unter Kontrolle sein wird und wieder so etwas wie normales Leben möglich ist, wird es wieder eine Deckelung geben – langfristig sollen dann 30 Prozent möglich sein. Einen höheren Bedarf sieht Heinicke auch nicht. Wichtig ist ihm, dass OnlineTherapien nur zwischen Patienten und Psychologen stattfinden, die sich bereits gut kennen. „Andernfalls finde ich das problematisch, weil sie dabei nur schwer ein Gefühl dafür bekommen, wie der andere tickt.“Kleidung, Körperhaltung, Gang – all das und noch vieles mehr sei durch die Linse einer Computerkamera nur schwer auszumachen. Und doch lieferten solche Details und vor allem Abweichungen vom Üblichen dieser Gewohnheiten wichtige Hinweise auf den Zustand eines Patienten.
Luisa möchte lieber heute als morgen, dass „dieser Alptraum endlich vorbeigeht“, wie sie sagt. Ihr Krankheitsbild, über das sie nicht allzu viel verraten möchte, habe mit Phobien zu tun und mit Zwängen, die ihren Alltag bestimmten. Immerhin: Eine kontinuierliche Verhaltenstherapie habe sie so weit stabilisiert, dass sie in Teilzeit ihrem erlernten Beruf in der Verlagsbranche nachgehen könne. Die Frau
Anfang 30 ist allerdings weit weniger gut klargekommen mit der virtuellen Therapie am Bildschirm als Jürgen. „Wenn das wirklich ein vollwertiger Ersatz wäre, würden wir auch nicht darunter leiden, nicht mehr verreisen zu dürfen. Denn mit dem Finger auf der Landkarte und durch Bilder und Filme im Internet dürfen wir ja quasi immer noch überallhin reisen“, sagt Luisa, deren echter Name sich nicht gut in der Zeitung machen würde, wie sie glaubt. Denn psychische Probleme seien noch immer ein Tabu und offen darüber zu reden so gut wie unmöglich. „Umso wichtiger ist darum die Therapie.“Luisa berichtet davon, dass die Online-Sitzungen mit ihrer Therapeutin sich immer irgendwie fremd anfühlen. „Ich finde, die Konzentration leidet.“Auch sie hält es für problematisch, therapeutische Hilfe im Netz anzunehmen, wenn das virtuelle Gegenüber komplett unbekannt sei, es also im echten Leben noch keinen unmittelbaren Kontakt gegeben hat.
Die Zunahme psychischer Erkrankungen war bereits ohne weltweite Pandemie eine fast jährlich wiederkehrende Schlagzeile – und mit ihr die Klage von Betroffenen, monatelang warten zu müssen, um überhaupt einen Therapeuten zu Gesicht zu bekommen. Der Anbieter MindDoc, der zum Konzern der Schön Kliniken gehört, verspricht genau dort schnelle Abhilfe. Denn er wirbt mit Therapie ohne Wartezeiten. Allerdings nicht bei jedem Krankheitsbild, sondern ausschließlich bei Depressionen, Ängsten, Essstörungen und Zwangsstörungen. Anhand eines Fragebogens, der 15 Punkte umfasst, soll ermittelt werden, ob sich der Patient mit seinem Problem überhaupt für eine Online-Therapie eignet. Der nächste Schritt ist ein Erstgespräch vor Ort in der Praxis eines Vertragstherapeuten, von denen MindDoc
Mathias Heinicke vom Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten
im Moment nach eigenen Angaben in Deutschland mehr als 200 niedergelassene hat.
Und die Kosten? Es gibt Krankenkassen wie etwa die Barmer oder die AOK Bayern, die volle Kostenübernahme garantieren, wie der Anbieter mitteilt. Was MindDoc kostet, wenn man als Selbstzahler Hilfe sucht, ist auf der Homepage allerdings so intransparent, dass es ohne ausdrückliche Nachfrage in der Pressestelle des Unternehmens nicht geht. Dort heißt es: „Die Kosten für Selbstzahler richten sich nach der Gebührenordnung für Ärzte.“Konkret beläuft sich das 50-minütige Erstgespräch inklusive 35 Minuten Vor- und Nachbereitung auf insgesamt 153 Euro. Der Satz für eine reguläre 50-Minuten-OnlineSitzung beläuft sich auf 100,55 Euro. Die Bitte um ein Telefoninterview lehnt MindDoc im Augenblick mit Hinweis auf einen Wechsel in der Führungsebene ab und stellt es erst gegen Ende des ersten Quartals 2021 in Aussicht.
Wie gehen gesetzliche Krankenkassen mit Angeboten wie MindDoc um? Thomas Müller, Sprecher der AOK Bodensee-Oberschwaben, teilt auf Anfrage mit: „Die AOK Baden-Württemberg unterstützt evidenzbasierte Versorgungsprojekte und Angebote, die digitale Komponenten nutzen, und ist an Forschungsvorhaben beteiligt, die digitale Anwendungen auf ihre Evidenz prüfen. So können Versicherte mit depressiven Symptomen den Online-Coach moodgym, der von australischen Wissenschaftlern entwickelt und vom Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und
Public Health an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig an deutsche Begebenheiten angepasst wurde, kostenfrei nutzen.“Allerdings ist „moodgym“nach eigener Aussage kein vollwertiger Ersatz für eine therapeutische Behandlung, sondern eher ein begleitendes Angebot und „Hilfe zur Selbsthilfe“. Außerdem richtet sich das OnlineProgramm, bei dem es keine direkte Interaktion zwischen Patienten und Therapeuten gibt, ausschließlich an Menschen mit depressiven Störungen.
Laut AOK gibt es Zukunftspläne: „Ein weiteres Vorhaben, das vom Innovationsfonds gefördert wird, ist PsychOnlineTherapie. Hier erfolgt ein Teil der Psychotherapie auf Empfehlung des Therapeuten mit selbst durchzuführenden Behandlungselementen, die online angeboten werden. Im Gegensatz zur klassischen Video-Psychotherapie wird dadurch der Transfer des Erlernten in den Alltag und das Selbstmanagement der Patienten gestärkt. Auf gesellschaftlicher Ebene kann diese verzahnte Behandlungsform zu einer besseren psychotherapeutischen Versorgung führen, da sie die Kapazitäten einzelner Therapeuten und damit die Anzahl verfügbarer Therapieplätze erhöhen kann“, schreibt Müller.
„Mit Apps kann ich nichts anfangen“, erklärt Jürgen, der sich kurz bei moodgym registriert habe, dem das Schema dieses Anbieters aber zu allgemein sei. „Da werden Ratschläge gegeben, wie man zum Beispiel weniger Stress hat und es wird empfohlen, das zu tun, was einem gut tut.“Für Luisa kommt moodgym schon wegen ihres Krankheitsbildes nicht infrage. Aber die begleitende Unterstützung durch ein digitales Programm – nach Angaben des bvvp wird das Angebot an Apps, die im weiteren Sinne zur Gesundheitsvorsorge zählen, deutlich wachsen – kann sie sich gut vorstellen. „Eine App, die einen erinnert, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten soll – warum nicht?“, sagt Luisa und bekräftigt noch einmal, wie sie sich danach sehnt, wieder die Hand ihrer Therapeutin schütteln zu können. In deren Praxis. Vor Ort. Ganz ohne den digitalen Filter, den Umweg über Bildschirme.
Und wie sagte Therapeut Mathias Heinicke vom bvvp so schön? Der Goldstandard ist nicht die Therapie von Maschine zu Mensch – sondern von Mensch zu Mensch.
„Der vermehrte Einsatz von Videotherapie wird von vielen Kollegen stark genutzt. Doch das ist sicher nicht der Goldstandard.“