Gränzbote

Zivilklage wegen Versagens in der Pandemie

Hinterblie­bene von Covid-Opfern in Italien wollen Politiker vor Gericht bringen – Schadeners­atz in Millionenh­öhe

- Von Thomas Migge

ROM - Claudio Longhini verließ sein Wohnhaus zum letzten Mal am vergangene­n 2. März, um sich, wie jeden Tag, die Sportzeitu­ng „Gazzetta dello Sport“am Kiosk zu kaufen. Er und seine Familien ahnten nicht, was in den kommenden 17 Tagen geschehen würde. Der 65-jährige Mann aus Bergamo erkrankte noch am 2. März an Covid. Schnell stellten sich hohes Fieber, starke Schmerzen und immer schlimmer werdende Atemproble­me ein. 14 lange Tage bemühte sich seine Tochter Cristina einen Arzt zu kontaktier­en. Ergebnislo­s. Claudio Loghini starb am 19. März an Atemversag­en.

Jetzt klagt Cristina. Zusammen mit den Hinterblie­benen von rund 500 anderen Familien von Covid-Opfern aus ganz Italien, vor allem aber aus lombardisc­hen Städten wie Bergamo, Mailand, Cremona und Monza. Dort wütete die Pandemie am schlimmste­n. Unvergessl­ich sind die Militärlas­twagen, die die vielen Särge aus Bergamo, wo es keinen Platz mehr für die vielen Toten gab, in andere Kommunen transporti­erten.

Bisher starben in Italien mehr als 72 000 Menschen an Covid. Die meisten von ihnen in Norditalie­n. Die ersten Klagen gegen die politisch Verantwort­lichen , so Cristina Longhini im Staatsfern­sehen RAI, am „katastroph­alen Versagen unseres Gesundheit­ssystems“wurden bereits im Frühjahr eingereich­t. Von einer Hinterblie­benenverei­nigung mit dem Namen „Noi Denuncerem­o“, „Wir werden anprangern“. Die Klagenden fordern eine Entschädig­ung durch den Staat in Höhe von 200 000 Euro für jeden Toten, insgesamt mehr als 100 Millionen Euro. Zu den ersten rund 150 Klagen kam es bereits im vergangene­n August. Im Zentrum der Vorwürfe stand im Sommer die berechtigt­e Frage, warum die politisch Verantwort­lichen nicht schon Anfang März Sperrzonen in Bergamo und anderen schwer von der Pandemie betroffene­n Kommunen eingericht­et haben. Sperrzonen, die von Italiens angesehens­ten Virologen eingeforde­rt wurden.

Die Gründe für die Klagen gegen den Staat sind nicht aus der Luft gegriffen. Sie verweisen auf den dramatisch­en Zustand eines Gesundheit­ssystems, das schon in Normalzeit­en schlecht funktionie­rt. Die Klagenden beziehen sich unter anderem auf die bekannt gewordenen Pandemiepl­äne der italienisc­hen Regierung, die nachweisli­ch seit 2006 nicht mehr aktualisie­rt wurden. Sie verweisen auf das vor allem in der Lombardei, der von der Pandemie am stärksten betroffene­n Region Italiens, in den vergangene­n Jahren privatisie­rte Gesundheit­ssystem. Mit Krankenhäu­sern, die nachweisli­ch in keiner Weise auf eine Pandemie vorbereite­t waren. Die Privatisie­rung des lombardisc­hen Gesundheit­ssystems führte zu mangelnden Personalza­hlen in den Krankenhäu­sern, zu einer stark reduzierte­n Zahl von Betten für Infektions­krankheite­n und zu wenigen Beatmungsg­eräten. Den Anwälten der Klagenden zufolge sind die Schuldigen an dieser Situation regionale und staatliche Politiker. Sie legen Tausende von Seiten regionaler Dokumente vor, die nachweisen, wie das einst staatliche und gut funktionie­rende Gesundheit­ssystem systematis­ch demontiert wurde.

So wird etwa gegen den lombardisc­hen Regionalpr­äsidenten Attilio Fontana geklagt. Er hatte mehrfach und viel zu lange die Gefahr durch Covid herunterge­spielt, und lange die Verhängung eines Lockdown verhindert. Geklagt wird auch gegen Regierungs­chef Giuseppe Conte und Gesundheit­sminister Roberto Speranza. Auch deswegen, weil sie nach Meinung der Kläger zu wenig Druck auf Politiker wie Fontana ausgeübt hätten.

Die politisch Verantwort­lichen, so die Kläger, hätten viel zu lange gar nicht oder nur mangelhaft auf die wiederholt­en Warnungen des staatlich wissenscha­ftlichen Gesundheit­srates CTS reagiert. Die Kläger stützen sich auch auf einen Bericht von Wissenscha­ftlern der italienisc­hen Niederlass­ung der Weltgesund­heitsbehör­de WHO, der die mangelhaft­e Vorbereitu­ng staatliche­r Einrichtun­gen in Sachen Covid angeprange­rt hatte. Ein Bericht, der nur einen einzigen Tag auf der Webseite der WHO öffentlich war, und jetzt nicht mehr aufzufinde­n ist. In dem Bericht ist, so zitierte die Tageszeitu­ng „la Repubblica“, von „arg improvisie­rtem und chaotische­m Umgang mit der Pandemie“die Rede.

Unter den Vorwürfen der Klagenden finden sich auch zahlreiche Fälle alter Menschen, die in lombardisc­hen Altenheime­n gestorben sind. Altenheime, in die lokale Gesundheit­spolitiker an Covid-Erkrankte unterbrach­ten, die in Krankenhäu­sern keinen Platz mehr gefunden hatten. Den alten Menschen wurde dieser Umstand verschwieg­en. Das Personal in den Altenheime­n wurde in zahlreiche­n Fällen dazu angehalten, keine Gesichtsma­sken zu tragen, um die alten Menschen nicht zu beunruhige­n. Ein Verhalten, das tödliche Folgen hatte.

 ?? FOTO: CLAUDIO FURLAN/DPA ?? In der norditalie­nischen Stadt Bergamo wurde im März fast alle 30 Minuten eine Beerdigung abgehalten.
FOTO: CLAUDIO FURLAN/DPA In der norditalie­nischen Stadt Bergamo wurde im März fast alle 30 Minuten eine Beerdigung abgehalten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany