„Ich habe keine abwertenden Reaktionen erlebt“
Der Performance-Künstler Daniel Beerstecher bewertet seinen Slow-Marathon als „regionalen Erfolg“
TUTTLINGEN - Daniel Beerstecher, geboren 1979 in Schwäbisch Hall, studierte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Ob mit dem Surfbrett unterm Arm durch die Sahara oder mit einem Segelboot auf Rädern über die Straßen Patagoniens: Beerstechers Kunstprojekte machen Furore. Als Teil der Donaugalerie Tuttlingen absolvierte er im Sommer 2019 den ersten Slow-Marathon der Kunst: Mit einer Geschwindigkeit von gerade einmal 120 Metern pro Stunde war er für die gut 42 Kilometer von der Donauquelle bis zum Flugplatz in Neuhausen ob Eck zehn Wochen lang jeweils sechs Stunden pro Tag unterwegs – ein Gegenentwurf zur Hektik unserer Zeit. Im Gespräch mit unserer Mitarbeiterin Kornelia Hörburger blickt er zurück auf das Projekt – und voraus auf das geplante Wiedersehen in der Städtischen Galerie Tuttlingen 2021.
Welche Erinnerung an Ihren „Slow Marathon“ist bei Ihnen nach eineinhalb Jahren noch besonders lebendig?
Beim langsamen Gehen bleiben auch viele Erinnerungen hängen. An eine Geschichte denke ich aber besonders oft: Auf meinem Weg kam mir eine Gruppe von etwa 20 jungen Männern entgegen, die wohl einen Junggesellenabschied feierten. Zwei Stunden später hörte ich, dass sie sich nun von hinten näherten. Offenbar waren sie inzwischen auch nicht mehr ganz nüchtern. Ich hatte mich bereits auf dumme Kommentare eingestellt, doch die Stimmung kippte und alle gingen ganz still an mir vorbei.
Wie haben die Menschen auf Ihre Performance reagiert?
Ich habe in mehr als zehn Wochen keine abwertenden Reaktionen erlebt. Die Aktion war wunderbar publik gemacht worden. Als ich in Tuttlingen ankam, schienen alle schon zu wissen, was ich da mache. Wo es möglich war, habe ich kurz die Fragen beantwortet, die mir, oft ganz vorsichtig, gestellt wurden. Manchmal hat auch Stanislaus Plewinski, der mich als Fotograf über lange Strecken begleitet hat, etwas erklärt, damit ich ganz bei mir bleiben konnte.
Erzählen Sie doch mal...
Konnten Sie Ihr künstlerisches Anliegen vermitteln?
In einer Welt, die auf „schneller, weiter, mehr“ausgerichtet ist, haben die Menschen im Gespräch sehr positiv auf meinen Gegenentwurf, die totale Entschleunigung, reagiert. Da war jemand, der langsam macht und Erfolg hat. Zudem haben sie erlebt, dass Kunst nicht unbedingt als Bild an einer Wand oder im Museum hängen muss. Die Aktion war regional ein großer Erfolg. Auch das Medieninteresse war groß. Besonderen Anteil am Erfolg hatte die Unterstützung durch die Städtische Galerie, die „Friends of Tower Ateliers“in Neuhausen, die Stadt Tuttlingen und das Museum Art.Plus in Donaueschingen. Ein Wermutstropfen für mich ist nur, dass die Aktion nicht über Baden-Württemberg hinaus gewirkt hat.
Wie ist Ihnen die Rückkehr aus dieser entschleunigten Welt in den Alltag gelungen?
Meine Frau und ich haben im Anschluss an den Walk noch einige entschleunigte Tage in einem Ferienhaus in Italien verbracht. Der Slow Walk war zwar körperlich anstrengend, aber ich fühlte mich durch das meditative Gehen mental sehr entspannt.
Bildende Künstler leben in der Regel vom Verkauf ihrer materiellen Werke. Wie ist das bei Ihnen? Ihre Kunst ist ja nicht körperlich fassbar?
Von Anfang an hatte ich „Editionen“geplant. Ich habe dafür zu jedem Tag des Projekts Bilderserien zusammengestellt. Die meisten Fotos stammen von der Bodycam, die ich immer an mir trug. Außerdem gibt es Diagramme von der ständigen Überwachung meiner Körperfunktionen, wie Herz- oder Atemfrequenz, und filmische Aufzeichnungen. Zum Teil sind Editionen von einzelnen Tagen verkauft worden. Eine Gesamtedition mit allen Bilderserien, Diagrammen und einem Film hat das Land Baden-Württemberg erstanden. Aber so ein Ankauf ist bei meiner Kunst eher die Ausnahme und deckt gerade einmal die Unkosten, die ich mit dem gesamten Projekt hatte. Deshalb bin ich im Wesentlichen auf Künstlergagen, Stipendien und Nebenjobs angewiesen, um überleben zu können.
Gab es ein Folgeprojekt zum „Walk in time“?
Während des ersten Corona-Lockdowns gab es unter dem Motto „You do not walk alone“täglich meinen zweistündigen „Slow Walk“durch meine Wohnung als Livestream. Ich wollte den Menschen helfen, durch Gelassenheit die herausfordernde Situation zu meistern und eine neue Perspektive einzunehmen. Im Herbst habe ich drei Wochen im Sitzen meditiert. Nähere Informationen gibt es dazu unter www.youdonotwalkalone.de.
Sie haben in der Vergangenheit viele Projekte auf Fernreisen verwirklicht – etwa Ihre Reise in die Wüste mit einem Surfbrett. Haben die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Reisebeschränkungen Sie in Ihrer Arbeit eingeschränkt?
Vor Jahren hätte mir das viel mehr zu schaffen gemacht. Doch für die derzeitigen Projekte zum Thema „Entschleunigung“sind die Einschränkungen nicht so einschneidend. Dass ich wieder auf Reisen gehe, schließe ich aber nicht aus.
Sie stehen für 2021 im Programm der städtischen Galerie. Wenn alles nach Plan läuft: Was erwartet die Besucher?
Da ich oft gefragt werde, wie ich denn auf die Idee zu solchen Kunstwerken komme, ist die Ausstellung von Anna-Maria Ehrmann-Schindelbeck und mir so konzipiert, dass wir Arbeiten aus allen Schaffensphasen zeigen werden, die letztlich in dem Hauptwerk der Ausstellung „Walk in time“mündeten. Dadurch wird sich vieles erklären. Aber es sind auch Veranstaltungen geplant, in denen die Besucher praktische Erfahrungen mit Geh-Meditation und entschleunigtem Gehen machen können.
Welche Art von Meditation erwartet die Besucher einer solchen Veranstaltung?
Sie erfahren Meditation und Achtsamkeit, losgelöst von Spiritualität und religiöser Ausrichtung. Ob jemand die Erfahrung mit christlicher Kontemplation, mit Yoga, mit Buddhismus oder Spiritualität verknüpfen oder füllen möchte, sollte jeder für sich entscheiden.
Informationen zu Daniel Beerstechers Nachfolgeprojekt mit dem Motto „You do not walk alone“gibt es online unter
●» www.youdonotwalkalone.de