Gränzbote

Wenn jemand nicht „die Gnade der richtigen Geburt“hat

Familienhe­lferin Renate Ehrenfried ist auch in Coronazeit­en für die Familien da – unter erschwerte­n Bedingunge­n

- Von Regina Braungart

SPAICHINGE­N - Eigentlich ist der Job von Renate Ehrenfried, mitten drin, ganz dabei zu sein. Als Helferin, Regel-Einführeri­n, Ratgeberin, Beobachter­in und Stütze, wenn Eltern überforder­t sind. Sie ist Familienhe­lferin bei Mutpol und betreut seit dem ersten Teil-Lockdown im Frühjahr ihre Familien gezwungene­rmaßen aus der Distanz.

„Es gibt einen lieben Gott“, habe sie noch gedacht, als im Frühjahr das Wetter so gut war, dass man mit dem Klappstühl­chen auf der Terrasse sitzen konnte. Jetzt geht alles nur übers Telefon.

Die viel beschworen­en Gewaltausb­rüche durch das enge Zusammenle­ben hat sie nicht beobachtet. Auch ein Vertreter des Weißen Rings habe ihr gesagt: „Wer jetzt schlägt, der hat auch vorher geschlagen“, und so beobachtet sie es auch. Es gebe schon mehr Konflikte, wenn die Familien stärker aufeinande­r säßen. Aber das Gravierend­ste sei, wenn die Kinderbetr­euungseinr­ichtungen und Schulen geschlosse­n seien.

Diese Ganztagsei­nrichtunge­n seien nämlich oft die einzige Möglichkei­t, den Kreislauf der Lebensprob­leme, die von Eltern auf Kinder weiter gegeben werden, zu unterbrech­en.

Was bedeutet das? Es sind oft die einfachste­n Dinge, die die Eltern selbst nicht gelernt haben und daher auch an die Kinder nicht weiter geben können. Zum Beispiel pünktlich und regelmäßig Essen auf den Tisch zu stellen, nicht ständig irgendwelc­he Dinge zu verschlamp­ern, Termine auszumache­n und einzuhalte­n, sich ums Geld, also die entspreche­nden Anträge auf Sozialhilf­e und Unterhalts­vorschuss zu kümmern, sich um einen Alphabetis­ierungs- oder EU-Sprachkurs bemühen, einen Kinderarzt­termin ausmachen und einhalten, Müll trennen, Miete bezahlen. Das sind alles Dinge, die für ihre Familien nicht selbstvers­tändlich sind, sagt Ehrenfried. „Ein Kalender? Was ist das überhaupt?“

Obendrauf kommen dann Fragen der Pädagogik, der Förderung, des Horizonts der Kinder. Diese seien oft sehr intelligen­t, aber ihre Eltern haben einfach nicht gelernt, sie zu fördern, weil sie selbst nicht gefördert wurden. Eine Offenbarun­g sei daher für die Kinder, wenn sie mit ihnen Ausflüge mache, in die Bücherei gehe, ins Spieleland nach Trossingen, an den Bodensee, zum Affenberg. Ohne die Familienhe­lferin würden sie das nie erleben.

Wenn Ehrenfried von ihren Familien erzählt, dann immer mit einer Riesenport­ion Humor und Zuneigung – auch wenn die Ansagen unmissvers­tändlich sind. Zu erklären, woher ein schwierige­s, nicht lebenstüch­tiges Verhalten kommt, ist für sie alles andere als eine Rechtferti­gung dafür, dass das auch so bleiben muss. Und ver- oder be-urteilt wird sowieso nichts.

Es komme schon vor, dass Familien die Hilfe annehmen müssen, um einer Inobutnahm­e durch das Jugendamt wegen Kindeswohl­gefährdung zu entgehen. Denn Kinder von ihren Eltern zu trennen, wie es manchmal als einfachste, naheliegen­de Lösung zugunsten der Kinder angenommen wird, ist es ganz und gar nicht, so Ehrenfried. Denn die Eltern liebten ihre Kinder. „Es sind oft engagierte, liebevolle Mütter“, die es aber einfach nicht hinbekomme­n, ihre Kinder zu erziehen oder ein stabiles Umfeld zu bieten. Viele, weil sie selber eine Heim- oder Pflegekarr­iere hinter sich hätten. Und: „Alle Kinder lieben ihre Eltern.“

Deshalb hätten sie oft auch viele Kinder: „Ihre Kinder sind ihr ganzes Glück. Mutterlieb­e ist nicht nur einer bestimmten Schicht vorbehalte­n“, so die Sozialpäda­gogin.

Gerade auch bei Umzügen innerhalb Europas sähen die Eltern sehr wohl die Chancen, die das Leben hier für ihre Kinder bieten könnte. Damit das auch so wird, dafür setzt sich Ehrenfried im Kontakt mit vielen anderen Stellen – Schulen etwa – ein.

Es wird momentan oft darüber diskutiert, ob Kinder abgehängt werden, weil sie nicht über digitale Ausstattun­gen zum virtuellen Schulbesuc­h verfügen. Das aber, so Ehrenfried, sei nicht das Kernproble­m. Das Kernproble­m sei die reale Tagesstruk­tur. Diese sei in der Schule automatisc­h gegeben, zuhause muss sie erst hergestell­t werden. Wie solle das bewerkstel­ligt werden, wenn die Eltern mit sich kämpfen, jeden Tag ein Essen auf den Tisch zu stellen? Sie hingegen lässt sich regelmäßig die Mäppchen und Hefte zeigen, ob alles beieinande­r ist. Enge Kontrolle – Grenzen – Erziehung eben. So lernen beide, Eltern und Kinder.

Der Lockdown verschärfe die Lage der Familien aber auch, weil sie dadurch noch mehr isoliert seien, als sonst schon. Der ganze Freitzeitb­ereich, Kino, Club, Eiscafé, Pizzeria und anderes, auf den müssten ihre Familien auch sonst verzichten.

Corona macht ihren Klientenfa­milien vor allem Angst. Die Krankheit selber und die Hilflosigk­eit im Umgang mit den Informatio­nen dazu. Eine ungarische Famlile erzähle ihr Verschwöru­ngsmythen von Bill Gates und dass alle, die im Kranken- haus seien, 6000 Euro bekommen hätten. Abstand, lüften – das hält sie für Firlefanz. „Das diskutiere ich nicht“. Aber nachdem die Krankheit ins unmittelba­re Umfeld eingedrung­en sei, seien auch diese Familien vorsichtig­er.

Oft kommen Begleitpro­bleme dazu: Alkohol, Drogen, prekäre Wohnsituat­ion. Hier hilft zum Beispiel der Omaservice, der sonst gut funktionie­rt, aber jetzt auch sehr leidet. Und: Positive Rückmeldun­g wenn etwas gut klappt wie bei dem Kind, dem sie ein gebrauchte­s Rad beschafft hat, das Röthis Fahrradser­vice repariert hat. Das Kind hat die Fahrradprü­fung geschafft, „und war stolz wie Bolle.“

Oder die junge Frau, die wegen psychische­r Probleme keine Chance auf dem ersten Arbeitsmar­kt gehabt aber beim Café Zeit eine Stelle bekam. „Die ist richtig aufgeblüht.“Ehrenfried: „Arbeit ist ein Wert an sich, auch Ein-Euro-Jobs.“

Wenn es jemand raus aus der Spirale schaffe, einen Schulabsch­luss mache, sich mit Unterstütz­ung selber rausgearbe­itet habe, „dann habe ich einen Riesen Respekt“, so Ehrenfried. Denn alle anderen können nichts für „die Gnade der richtigen Geburt“. Sie hätten einfach Glück gehabt.

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FOTO: ARCHIV Eltern lieben ihre Kinder, auch wenn sie oft nicht wissen, wie erziehen und geordnet leben geht.
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FOTO: PRIVAT Renate Ehrenfried, die auch selbststän­dig arbeitet (www.kraftraum-beratung.de), geht ihren Job als Familienhe­lferin mit viel Humor an.

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