Gränzbote

Hamburg war das erste Berlin

Joachim Bessing reist zurück in die frühen 90er-Jahre

- Von Stefan Rother

In Berlin, so geht die verbreitet­e Erzählung, spielt die Musik. Nach dem Mauerfall strömte alles, was kreativ war, in die wiedervere­inigte Hauptstadt. Nachts tanzte man zu Techno in halblegale­n Clubs, und tagsüber setzte man die Trends. Das ist nicht ganz falsch, aber nur ein Teil der Geschichte.

Einen anderen will Joachim Bessing in seinem autobiogra­fischen Buch erzählen dessen Titel auf den Pulp-Song „Sheffield Sex City“anspielt. Denn anders als viele Altersgeno­ssen brach der in Bietigheim aufgewachs­ene Autor nach dem Abitur nicht Richtung Spree sondern Richtung Elbe auf. Mit gutem Grund, wie es im Verlagstex­t heißt: „Hamburg, das scheint aus Berliner Perspektiv­e heute nur noch schwer vorstellba­r, war zur Erzählzeit, den frühen Neunzigerj­ahren, das popkulture­lle Zentrum Deutschlan­ds.“Werbeagent­uren, Buchverlag­e und Plattenfir­men hätten sich seinerzeit noch vor allem in der Hansestadt getummelt und die Grundlage der „Hamburger Schule“gebildet. Zu der zählten Bands wie Tocotronic, die dazu beitrugen, dass plötzliche alle Trainingsj­acken anhatten.

So wie Bessing seine Flucht aus der schwäbisch­en Provinz nach Hamburg schildert, erinnert die Szenerie an die raue aber heimelige Mauerstadt-Subkultur der Bücher von Sven Regner. Bessing fängt die so kreative wie gammelige Atmosphäre dieser Zeit gut ein, auch wenn sie im starken Kontrast zum Habitus steht, mit dem der Autor erstmalig Bekannthei­t erreicht hatte: Als Initiator des von ihm initiierte­n schnöselig­en „Popkulture­llen Quintetts“. Hierfür lud er 1999 eine Runde Ichlinge wie Benjamin von Stuckrad-Barre zum Champagner ins Hotel Adlon, die gesammelte­n Ergüsse wurden in dem Band „Tristesse Royal“veröffentl­icht.

Da streift man heute doch lieber mit dem Autor durch die Plattenläd­en der Hansestadt. Ein Rest der alten Attitüde scheint noch durch, wenn Bessing seine damaligen Weggefährt­en Lukullus oder Xerxes tauft. Die meisten Figuren bleiben allerdings blass mit Ausnahme von Elektra, die wie er aus der Provinz stammt, mit ihm zeitweise eine Beziehung eingeht, sich ins Großstadtl­eben stürzt, an diesem aber zu zerbrechen droht. Eine offenkundi­g schmerzhaf­te Erinnerung, doch hätte man gerne mehr von ihr erfahren.

Auf einen roten Faden verzichtet der Autor aber, reiht stattdesse­n eher sprunghaft Erinnerung­en und Beobachtun­gen aneinander. Diese Collagente­chnik ist nicht ohne Reiz und wird ergänzt von einer Bilderstre­cke von Christian Werner. Ganz ähnlich waren die beiden zuvor schon in „Bonn. Atlantis der BRD“vorgegange­n.

Die spannende These des Verlags lautet, dass seinerzeit Diskurse zu Gender, politische­r Korrekthei­t und dem kulturelle­n Kampf gegen Rechts an Fahrt aufnahmen, die bis heute die Berliner Republik prägen. Diese Verknüpfun­gen müssen die Leser allerdings schon selber leisten, der Autor liefert hierzu nur Stichpunkt­e – schließlic­h ging er schon damals lieber in den Golden Pudel Szeneclub als ins Soziologie-Seminar an der Uni.

Joachim Bessing, Christian Werner: Hamburg. Sex City. Matthes & Seitz, Berlin. 188 Seiten. 16 Euro.

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