Als die Spaichinger zu Deutschen wurden
Kreisarchivar Hans-Joachim Schuster zu 150 Jahre Deutschland
SPAICHINGEN - In diesem Jahr ist Deutschland 150 Jahre alt geworden. Die Reichsgründung von 1871 hat den modernen deutschen Nationalstaat erst geschaffen. Unser Redaktionsmitglied Frank Czilwa hat mit Kreisarchivar Hans-Joachim Schuster darüber gesprochen, wie sich das Nationalbewusstsein in der Region um Spaichingen entwickelt hat.
Herr Schuster, wurde die Gründung des deutschen Reiches im Januar 1871 in der Region gefeiert?
Feiern direkt zur Reichsgründung sind mir nicht bekannt. Was es danach gab, waren Gedenkfeiern – die SedanFeiern – als Erinnerung an den Deutsch-französischen Krieg. Da sind dann auch Militärvereine gegründet worden, die auf dieses Ereignis Bezug genommen haben. Da besteht dann sozusagen indirekt eine Beziehung zur Reichsgründung. Aber nationale Feiern waren gerade im süddeutschen Raum nicht so verbreitet. Ich würde sagen, die Leute haben sich mehr als Badener oder Württemberger gefühlt. Die Beziehung zum württembergischen König oder zum badischen
Großherzog und die Identifikation mit dem Großherzogtum oder mit dem Königreich Württemberg waren stärker als mit dem Deutschen Reich – auch noch nach 1871. Das waren ja weiterhin ein Stück weit souveräne Länder. Die haben zwar ein Stück ihrer Souveränität an das Reich abgegeben, waren aber doch noch eigenständige Länder, die auch im Bundesrat vertreten waren.
Gibt es aus der Region auch Hinweise auf Kritik oder Widerstand gegen die Reichsgründung? Leute, die nicht deutsch sein wollten?
Ich wüsste jetzt nicht, dass sich das jemals niedergeschlagen hätte im Archiv oder in den Zeitungen. Am ehesten noch bei den Wahlen und bei der politischen Orientierung; also dass man Parteien gewählt hat, die eher regional waren beziehungsweise landesweit. Wobei das hier in Württemberg oder in Baden nicht so heraussticht. In Bayern war es ein bisschen anders. Mit der Bayerischen Volkspartei war das stärker ausgeprägt. Oder wo es stark ausgeprägt war, das war im Reichsland Elsaß-Lothringen, wo man diese regionalen Parteien gewählt hat. Was man ein wenig pauschal sagen kann: Die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden waren auch noch 1870/71 aus der Vergangenheit, aus dem Krieg von 1866 her, stärker großdeutsch orientiert, hatten also diesen Bezug auf Österreich und den Einbezug von Österreich in die deutsche Lösung im Hinterkopf. Aber ich wüsste jetzt nicht, dass sich das hier in der Region geäußert hätte.
Nun waren ja die Menschen hier in Spaichingen damals fast alle katholisch. Hat der sogenannte „Kulturkampf“der 1870er-Jahre [Konflikt zwischen Preußen bzw. später dem Deutschen Kaiserreich unter Reichskanzler Otto von Bismarck und der katholischen Kirche unter Papst Pius IX.; die Red.] den Leuten erschwert, sich mit dem neuen Deutschen Reich zu identifizieren?
Also der Kulturkampf hat ja eigentlich in Preußen stattgefunden. In Württemberg hat der keine Rolle gespielt. Es ist der württembergischen Regierung gelungen, diese Kontroverse zwischen der protestantisch geprägten
Regierung und den katholischen Bevölkerungsgruppen – beziehungsweise hinter den Katholiken steckt natürlich immer Rom –, in Württemberg zu umschiffen. Da hat das nie auch nur ansatzweise die Rolle gespielt wie in Preußen, wo es ja wirklich einen harten Kulturkampf gab. Württemberg hat es geschafft, da einen Ausgleich herzustellen, und zwar im Prinzip schon seit 1810, als dieses Württemberg seine Form bekommen hat, und Katholiken zu diesem Land hinzu gekommen sind. Das war also eine Sache, mit der hat sich Württemberg schon mit der Erhebung vom Herzogtum zum Königreich und damit mit der Gebietsausdehnung arrangieren und eine Lösung finden müssen und einen Ausgleich zwischen den Konfessionen herstellen müssen.
Auf der Alltagsebene gab es aber trotzdem Gegensätze und Vorbehalte zwischen Protestanten und Katholiken. Hat die gemeinsame deutsche Identität eine Rolle dabei gespielt, die Konfessionalisierung zu überwinden?
Die Konfessionalisierung spielt Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr die Rolle wie in der Frühen Neuzeit vor 1800. Von der Reformation bis 1800 hat die Konfession einen ganz anderen Stellenwert gehabt und auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen geführt, wenn man da nur an den Dreißigjährigen Krieg denkt, der ja als konfessioneller Krieg begonnen hat. Auch in unserer Region hat das zu Spaltungen geführt, die durch die Gesellschaft durchgingen. In einem katholischen Dorf durfte kein Protestant leben und umgekehrt in einem protestantischen Dorf kein Katholik. Das hat dann in Orten wie Bärenthal noch im frühen 18. Jahrhundert zum Exodus von Konvertiten geführt, die zum Protestantismus übergetreten waren. Das hat sich dann aber im 19. Jahrhundert mit den neuen Ländern Baden und Württemberg durch diese Toleranz der Monarchen, von der Regierungsseite gelöst. Dann gab’s auch Austausch. Wenn man in die Statistik guckt, tauchen ab 1800 Katholiken in Tuttlingen auf und ab 1810 Evangelische in Spaichingen. Diese strikten Trennlinien vor 1800, die gab’s dann nicht mehr. Wobei die Konfessionen im Kaiserreich aber natürlich weiterhin das Wahlverhalten bestimmt haben. Wenn Sie gucken, wie in Spaichingen gewählt wurde, und wie in Tuttlingen gewählt wurde, dann sehen sie deutliche Unterschiede.
Ab wann lassen sich denn in unserer Region erste Anzeichen von einem deutschen Nationalbewusstsein feststellen?
Da muss ich jetzt auch überlegen: Wann haben wir hier erste Äußerungen? Wir haben hier natürlich Leute wie Max Schneckenburger mit der „Die Wacht am Rhein“[das 1840 von dem gebürtigen Talheimer verfasste anti-französische Lied, das im Kaiserreich wie eine inoffizielle Nationalhymne gesungen wurde; die Red.]. Dieses Gefühl, wir haben eine deutsche Kultur, eine gemeinsame deutsche Sprache, das gab’s schon vor 1800, wurde aber durch 1870/71 beflügelt. Und danach hat sich dieses deutschnationale Denken stärker ausgeprägt als vorher. Aber schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – in der Romantik – da haben wir schon diese nationalen Gefühle.