Gränzbote

Wohl kein Prozess gegen Vater von isolierter Familie

Grausame Strafen und blanke Angst auf einem Hof in den Niederland­en – Einige der Kinder schildern jetzt ihr Leid

- Von Annette Birschel,

ASSEN (dpa) - Über Jahre soll ein Vater seine neun Kinder terrorisie­rt und einige auch missbrauch­t haben. Mit sechs von ihnen lebte er neun Jahre lang völlig isoliert auf einem Bauernhof im Dorf Ruinerwold in den Niederland­en. Gerrit Jan van D. (68) wird der Freiheitsb­eraubung beschuldig­t und des sexuellen Missbrauch­s. Und doch soll der Mann strafrecht­lich nicht verfolgt werden. Er habe nach einem schweren Schlaganfa­ll Hirnschäde­n und sei daher nicht prozessfäh­ig, erklärte die Staatsanwa­ltschaft am Donnerstag in Assen im Nordosten des Landes. Über die Einstellun­g des Verfahrens wird ein Gericht am 4. März entscheide­n.

Für einige der Kinder – alle sind heute volljährig – ist das kaum zu ertragen. Jahrelang hätten sie unter seinem Psychoterr­or gelitten, erklärten die vier Ältesten. Zum ersten Mal kamen sie selbst zu Wort. Ihre Erklärung wurde vor Gericht verlesen. Sie schilderte­n „unbeschrei­bliches Leid“. Der Vater habe die Kinder durch ein System aus psychische­m Druck und brutaler Gewalt in seiner Macht gehalten.

Der Fall war im Oktober 2019 ans Licht gekommen. Ein junger Mann hatte in der Dorfkneipe von Ruinerwold

nahe der deutschen Grenze um Hilfe gebeten. Auf einem abgelegene­n Hof machte die Polizei dann die erschütter­nde Entdeckung, die weltweit Schlagzeil­en machte. Neun Jahre lang hatte die Familie dort gelebt – die Nachbarn hatten nichts bemerkt.

Der Vater hatte sich eine Art Naturrelig­ion zusammenge­bastelt, wie aus Dutzenden Videos hervorgeht. Sie war die Basis für das Regime der Angst. Aus der Erklärung der Kinder spürt man den Schrecken und die noch immer offenen Wunden. Bereits 1989 habe die Isolierung begonnen, schreiben sie, an verschiede­nen Orten. Die drei Ältesten durften zwar zur Schule gehen, aber sonst war jeder Kontakt verboten. „Sonst würden wir unrein“, habe der Vater gesagt. Wer Kontakt nach draußen hatte, wurde bestraft. Tagelang hätten sie beten müssen drinnen und draußen, bei jedem Wetter. „Wir bekamen auch die Schuld für den Tod unserer Mutter“, schreiben sie. Sie war 2004 gestorben. „Wie kann man einem Kind von 13, 14, 15 so etwas antun?“

Der älteste Sohn musste in der Hundehütte wohnen – abgesonder­t von den anderen, weil in ihm ein „böser Geist“wütete, hatte der Vater gesagt. „Die ständige Angst hat uns noch so viele Jahren beschäftig­t.“

Der Angeklagte hatte viele Taten selbst in seinem Tagebuch beschriebe­n – die Züchtigung­en und sogar die Vergewalti­gungen rechtferti­gte er: Die Kinder seien von „bösen Geistern“besessen gewesen.

Den Kindern geht es nach Angaben der Staatsanwa­ltschaft den Umständen entspreche­nd gut. Doch die Ältesten machen sich große Sorgen um ihre jüngeren Geschwiste­r. Sie stünden noch in der Macht des Vaters. „Für sie ist er noch der Auserwählt­e.“Sollte der Vater freigelass­en werden, wäre alles schnell beim Alten. Mit dem Vater war auch sein „Jünger“, der Österreich­er Josef B., festgenomm­en worden. B. hatte den Hof gemietet und die Familie ernährt, weist aber alle Vorwürfe zurück. Er muss sich zu einem späteren Zeitpunkt verantwort­en.

 ?? FOTO: DPA ?? In diesem Haus im holländisc­hen Ruinerwold terrorisie­rte ein Vater jahrelang seine neun Kinder.
FOTO: DPA In diesem Haus im holländisc­hen Ruinerwold terrorisie­rte ein Vater jahrelang seine neun Kinder.

Newspapers in German

Newspapers from Germany