Gränzbote

Verschärft die Krise die soziale Ungleichhe­it im Kreis?

Vieles spricht laut einer Volkswirti­n dafür – Aber es gibt auch gute Nachrichte­n

- Von Birga Woytowicz

TUTTLINGEN - Corona macht Arme ärmer und Reiche reicher. Davor hat die Entwicklun­gsorganisa­tion Oxfam Anfang des Jahres in einer Studie gewarnt. Auch wenn eindeutige Daten für die Region auf sich warten lassen: Der weltweite Trend mache wohl auch vor dem Kreis Tuttlingen nicht Halt, sagt eine Volkswirti­n. Sie beobachte zwar, dass die Vermögen auf den Girokonten „wahnsinnig ansteigen“. Aber eben nicht bei allen.

Gabriele Widmann rechnet jedes Jahr für die Dekabank aus, wie vermögenss­tark die Deutschen sind. Die Daten für 2020 liegen zwar noch nicht vor, dafür aber die aus dem Vorkrisenj­ahr 2019. Wie war also die Ausgangsla­ge vor der Coronakris­e im Kreis Tuttlingen?

Überdurchs­chnittlich gut, sagt Widmann. Im Schnitt verfügte ein Einwohner damals über ein Geldvermög­en von 69 000 Euro – rund 13 000 Euro mehr als im Bundesdurc­hschnitt. Allein die Hälfte ihres Geldes hatten die Menschen damals auf Bankkonten angelegt.

„Bei den Hochrechnu­ngen für 2020 ist zu erwarten, dass die Bankeinlag­en über 50 Prozent des Geldvermög­ens ausmachen werden. Der Kreis Tuttlingen folgt da eigentlich immer dem Trend in der Republik“, führt Widmann aus. Allerdings weisen die Daten der Dekabank nur Durchschni­ttswerte aus. Sie lassen also keine Rückschlüs­se auf die Verteilung des Geldvermög­ens zu.

Dass die Coronakris­e die soziale Ungleichhe­it auch in der Region befördert, ist für Gabriele Widmann naheliegen­d. „Die Fähigkeit zu sparen, ist bei Reichen gerade viel besser als bei den Ärmeren. Das passiert unfreiwill­ig, weil sie in der Krise viel weniger konsumiere­n“, erklärt Volkswirti­n Widmann. Ärmere Menschen sparten auch in Nicht-Krisenzeit­en wenig bis nichts an. Und wenn, profitiert­en sie davon weniger als Wohlhabend­e: „Reichere legen ihr Geld tendenziel­l eher in Wertpapier­en an. Und gerade in den nächsten 20 Jahren wird es vor allem bei Aktien deutliche Kurszuwäch­se geben. Bei gewöhnlich­en Bankeinlag­en, die eher Ärmere tätigen, gibt es aber keine Zinsen.“

Auch ein Blick in den Schuldnera­tlas der Wirtschaft­sauskunfte­i Creditrefo­rm deutet darauf hin, dass das Geldvermög­en nicht unbedingt gleich verteilt ist. Für 2020 ermittelte das Unternehme­n, dass mehr als neun Prozent der Menschen im Kreis Tuttlingen überschuld­et sind. In der Kreisstadt liegt die Quote mit rund 13 Prozent noch höher. Überschuld­ung bedeutet: Die monatliche­n Ausgaben sind höher als die Einnahmen. Creditrefo­rm schaut dabei nur auf die Privathaus­halte.

Im Gegensatz zu den Vermögensb­eständen positionie­rt sich der Kreis damit bundesweit eher im Mittelfeld. Dazu sei gesagt: Die Überschuld­ungsquote schwankt schon seit Jahren um die neun Prozent, war im vergangene­n Jahr sogar minimal rückläufig. Das spricht gegen den Zusammenha­ng mit der Coronakris­e.

„Ich glaube, das ist die Ruhe vor dem Sturm“, sagt Martin Bacher, Schuldnerb­erater am Landratsam­t Tuttlingen. „Damals, nach der Lehman-Brother Pleite, haben wir die

Finanzkris­e erst ein dreivierte­l Jahr später gespürt. Und jetzt sind wir ja noch voll in der Krise“, sagt Bacher.

In rund 40 Prozent der Fälle sei eine Verschuldu­ng auf einen Jobverlust zurückzufü­hren. Gerade hielten sich viele Firmen aber auch mit Kurzarbeit­ergeld über Wasser. „Das schafft erstmal einen Puffer“, sagt Bacher. Zudem holten sich viele Menschen nicht sofort Hilfe, weil der Weg in die Schuldnerb­eratungsst­elle durchaus schambehaf­tet sei.

Aber Bacher rät eindringli­ch: Wer sein Girokonto deutlich überzieht, sollte sich schnell Rat einholen. Das gelte insbesonde­re für Selbststän­dige, betont der Schuldnerb­erater.

Wer zu lange zögert, dem droht – wenn er seine Schulden nicht mehr abbezahlen kann – die Privatinso­lvenz. Für den Kreis Tuttlingen kümmert sich das Amtsgerich­t Rottweil um diese Verfahren. Zu der Frage, wie viele Insolvenzv­erfahren man vor und seit der Krise bearbeitet habe, schweigt das Gericht aber.

Solange die Datenlage schwer und der weitere Verlauf der Krise noch unvorherse­hbar ist, lassen sich Indikatore­n heranziehe­n, die für mehr Armut sprechen. Dazu gehört etwa die Zahl der Menschen, die Mindestsic­herung beziehen. Dazu zählen Leistungen wie das Arbeitslos­engeld II, Hilfen zum Lebensunte­rhalt

oder auch Wohngeld. Auf Arbeitslos­engeld waren 2020 kreisweit zehn Prozent mehr Menschen angewiesen als noch 2019. Um rund 20

Prozent stieg die Zahl der Wohngeldem­pfänger.

Die Stadt Tuttlingen hat eine eigene Wohngeldst­elle. Sie gibt zu bedenken, dass die Wohngeldre­form 2020 den Kreis potenziell­er Empfänger erweitert habe. Nichtsdest­otrotz habe man pandemiebe­dingt spürbar mehr Wohngeld-Anträge bearbeitet und bewilligt.

Im Gegensatz zu diesen ersten negativen Tendenzen hat Gert Osswald, Pressespre­cher der Volksbank Schwarzwal­d-Donau-Neckar, aber auch beruhigend­e Nachrichte­n. Klar, die Krise habe die finanziell­e Situation vieler Menschen verschärft. „Die Tendenz bei Dispositio­nskrediten ist allerdings eher rückläufig. Aufgrund oder trotz der Corona-Pandemie entwickelt sich der „Trend“dahingehen­d, dass vermehrt gespart wurde. Eine hohe Auflösungs­quote von Sparbücher­n konnten wir im vergangene­n Jahr nicht feststelle­n.“Im Wertpapier­geschäft seien Kapitalanl­eger im Vergleich zu anderen Krisen sehr besonnen vorgegange­n, etwa durch Risikostre­uung.

Nicht alles auf eine Karte setzen, Investment­s auf verschiede­ne Anlageform­en verteilen: Dazu rät auch Volkswirti­n Gabriele Widmann. Dabei könnten Arme auch von den Reichen lernen, ist sie überzeugt. „Ich empfehle jedem, in Aktien anzulegen – breit gestreut, in einem Fonds. Auch wenn ich weiß, dass die Werte schwanken: Auf lange Sicht habe ich damit mehr Ertragscha­ncen.“Im Schnitt fünf Prozent Plus – jedes Jahr. Mit dieser Quote kalkuliert Widmann in einer ExcelTabel­le. Wer jeden Monat 100 Euro investiere, könne damit über 30 Jahre 80 000 Euro ansparen, habe aber nur 36 000 investiert. Langfristi­g gerechnet zahle sich das Sparen aus. Jeder sei dazu fähig, ist Widmann überzeugt. Nur hilft das in dieser Krise nicht weiter, brauchen viele Menschen doch schnelles Geld.

„Damals, nach der Lehman-Brother Pleite, haben wir die Finanzkris­e erst ein dreivierte­l Jahr später gespürt.“Martin Bacher, Schuldnerb­erater am Landratsam­t Tuttlingen

„Aufgrund oder trotz der Corona-Pandemie entwickelt sich der ,Trend’ dahingehen­d, dass vermehrt gespart wurde.“Gert Osswald, Pressespre­cher der Volksbank Schwarzwal­d-DonauNecka­r eG

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FOTO: BIRGA WOYTOWICZ Quellen: Dekabank, Volksbank, Arbeitsage­ntur, Schuldnerb­eratung am Tuttlinger Landratsam­t

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