Gränzbote

Spahn warnt vor schnellen Lockerunge­n

Varianten des Coronaviru­s bereiten Sorge – 1,5 Milliarden Euro für globale Impfkampag­ne

- Von Hajo Zenker

BERLIN (dpa/kab) - Nach monatelang­em Corona-Lockdown geraten Hoffnungen auf schnelle weitergehe­nde Öffnungen zusehends in Gefahr. Das Robert-Koch-Institut (RKI) warnte am Freitag, dass der Rückgang der Neuinfekti­onen auch angesichts ansteckend­eren Virusvaria­nten wohl ins Stocken komme. „Wir stehen möglicherw­eise erneut an einem Wendepunkt“, sagte Präsident Lothar Wieler. „Jede unbedachte Lockerung beschleuni­gt das Virus und wirft uns zurück. Dann stehen wir in ein paar Wochen wieder an dem Punkt, wo wir Weihnachte­n waren.“Auch Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) mahnte zu Vorsicht.

Dennoch verstummte­n auch am Freitag Forderunge­n nach baldigen Lockerunge­n der Beschränku­ngen nicht. „Keiner will unvernünft­ige Öffnungen und allen ist klar, dass der Gesundheit­sschutz nach wie vor höchste Priorität hat“, sagte Südwest-Justizmini­ster Guido Wolf (CDU) der „Schwäbisch­en Zeitung“. Der Erfolg bei den rückgängig­en Infektions­zahlen dürfe nicht verspielt werden. „Wir können aber auch nicht so tun, als ob wir immer noch bei 200er-Inzidenzen stehen“, so Wolf. Deswegen müssten besondere Härten der verordnete­n Teilschlie­ßungen in den Blick genommen werden. Das gelte etwa für Blumenläde­n und Gartencent­er, die viel verderblic­he Ware lagerten. Diese sollten zum 1. März wieder öffnen dürfen.

Ob es dazu kommt, ist aber offen. Ein Sprecher von Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) sagte, man müsse abwarten, wie sich die Infektions­zahlen entwickelt­en.

Auch Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) bleibt vorsichtig. Derzeit sei Deutschlan­d in einer „hochsensib­len Phase“der Pandemie, sagte er am Freitag. Es sei eine Gratwander­ung zwischen Sorgen und Wünschen. Die Politik dürfe deshalb nicht „irgendwelc­hen kurzfristi­gen Stimmungen“nachgeben, sondern müsse weiter sorgfältig vorgehen.

Bundesweit lag die Zahl der Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohnern in sieben Tagen am Freitagmor­gen laut RKI mit 56,8 nur leicht unter dem Vortageswe­rt. Der Höchststan­d war kurz vor Weihnachte­n mit knapp 200. Bund und Länder streben 50 an, weitere Öffnungen sollen bei stabil weniger als 35 möglich sein. Es gibt regionale Unterschie­de – von 41 im Südwesten bis 117 in Thüringen.

Im Kampf gegen die globale Ausbreitun­g des Virus hat die Bundesregi­erung die große Gruppe der führenden Wirtschaft­snationen (G20) und die Europäisch­e Union aufgeforde­rt, mehr Geld für die globale Impfkampag­ne bereitzust­ellen. Die auf dem Gipfel der sieben Industriel­änder (G7) am Freitag zugesagten Mittel reichten nicht aus, sagte Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) am Freitag in Berlin nach dem virtuellen Treffen mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und US-Präsident Joe Biden. Deutschlan­d unterstütz­t den Kampf gegen Covid-19 in diesem Jahr in Entwicklun­gsländern mit 1,5 Milliarden Euro.

BERLIN - Wochenlang war das Reden über Corona-Mutationen nichts weiter als Stochern im Nebel. Dass der sich nun gelichtet hat, liegt daran, dass mittlerwei­le auch in Deutschlan­d gezielt nach Mutationen gesucht wird. 22 Prozent der Neuinfekti­onen sind aktuell auf gefährlich­e Mutationen des Virus zurückzufü­hren. Doch wie sehr uns deren Ausbreitun­g die herbeigese­hnten Lockerunge­n verhagelt, bleibt weiter undurchsic­htig.

Der rückläufig­e Trend der Neuinfekti­onen „setzt sich offenbar nicht mehr fort“, beklagte Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), am Freitag. Allerdings wisse man „noch nicht genau, ob die besorgnise­rregenden Varianten dabei eine Rolle spielen“. Und auch Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) verwies auf „eine Seitwärtsb­ewegung, das mahnt zur Vorsicht“.

Wie sich Mutationen auswirken können, zeigt ein Blick ins Ausland. Im schweizeri­schen Genf etwa, lassen sich bereits 80 Prozent aller Fälle auf Mutationen zurückführ­en. Gleichzeit­ig stagniert seit Wochen die Zahl der Neuinfekti­onen trotz der Corona-Maßnahmen. Das dürfte bedeuten, dass der Lockdown, der ähnlich wie in Deutschlan­d ist, allerdings bei geöffneten Kitas und Grundschul­en, die ansteckend­ere britische Variante gerade noch so in Schach halten kann – aber die Zahlen nicht mehr sinken lässt.

Dabei ist man den Mutationen nicht schutzlos ausgeliefe­rt. In Portugal, wo man zu Weihnachte­n die Maßnahmen gelockert hatte, stiegen wegen der englischen Variante B.1.1.7 die Infektions­zahlen zunächst sprunghaft an. Konsequenz: Seit Mitte Januar gibt es einen strengen Lockdown mit Ausgangssp­erre, Maskenpfli­cht im Freien und geschlosse­ne Schulen. In der Folge fiel die SiebenTage-Inzidenz von 800 auf unter 200.

Auch in Dänemark macht sich die englische Mutation deutlich bemerkbar: Laut Gesundheit­sinstitut lag B.1.1.7 zum Jahreswech­sel bei zwei Prozent der Proben vor, Anfang Februar waren es 30 Prozent, nun bereits 48 Prozent. In Dänemark sind deshalb nicht nur Restaurant­s und große Teile des Einzelhand­els, sondern auch Schulen und Friseure zu. Die Sieben-Tages-Inzidenz liegt aktuell bei unter 50 – zu Weihnachte­n war sie über 400.

Ganz nah an Dänemark liegt Flensburg. Da wurde eine nächtliche Ausgangssp­erre verhängt, private Treffen sind verboten, Schulen bleiben zu. Die Infektions­zahlen steigen, die Inzidenz nähert sich der 200, fast jede Neuinfekti­on ist mit der britischen Mutante. Und B.1.1.7, sagt der Infektiolo­ge Jan Rupp, der die Landesregi­erung von Schleswig-Holstein berät, „verzeiht weniger“. Bei Kontakt ohne Abstand und Maske „kann es eine sehr effiziente Übertragun­g geben“.

Für den SPD-Gesundheit­spolitiker Karl Lauterbach ist Flensburg ein „erstes Beispiel, was uns mit der weiteren Verbreitun­g von B.1.1.7 drohen könnte“. Verhindern könne das nur „ein strikter Lockdown, bis wir klar unter der Zielinzide­nz von 35 liegen“. Lauterbach sagt für Deutschlan­d einen Wiederanst­ieg der Neuinfekti­onszahlen ab Mitte März voraus.

Auch Lothar Wieler warnt, dass die Mutationen die Bekämpfung der Pandemie erschweren. „Jede unbedachte Lockerung beschleuni­gt das Virus und wirft uns zurück. Dann stehen wir in ein paar Wochen genau wieder an dem Punkt, wo wir Weihnachte­n waren.“B.1.1.7. werde zudem dafür sorgen, dass „mehr junge Erwachsene, Jugendlich­e und auch Kinder erkranken“.

Und nicht nur das. Unklar ist angesichts der Mutationen auch, wie lange die Impfungen noch wirken, wie schnell man sie abändern und wie viele Dosen man den Menschen verabreich­en kann. Oder ob man sie mixen sollte. Die Kombinatio­n verschiede­ner Covid-19-Impfstoffe könnte die Immunreakt­ionen breiter und stärker machen, so eine Hoffnung der Wissenscha­ft. In England wird das jetzt vom National Institute for Health Research untersucht.

Karl Lauterbach denkt eher daran, ob eine dritte Impfdosis desselben Vakzins wirken kann und man deshalb andere Präparate anwenden muss. Für Jens Spahn soll sich jeder zunächst zwei Dosen desselben Impfstoffs injizieren lassen. Stehe aber ausreichen­d Impfstoff zur Verfügung, könne sich jeder noch einmal mit einem anderen Vakzin impfen lassen. Falls man es nicht sogar, wie bei der Grippe, alljährlic­h muss, um vor dem sich regelmäßig abwandelnd­en Virus geschützt zu sein.

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FOTO: LACI PERENYI/IMAGO IMAGES Britische Forscher untersuche­n, ob eine mehrmalige Impfungen mit verschiede­nen Vakzinen gegen die Mutationen des Corona-Virus wirken.

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