Ausbildung in der Krise
Praxislehre fehlt im Lockdown – Hoffnung auf Öffnung
RAVENSBURG (hego) - Für Friseure gibt es in Baden-Württemberg mittlerweile eine Öffnungsperspektive und wenn es nach der CDU geht, sollen auch Gartencenter und Blumengeschäfte zum 1. März öffnen dürfen. Für viele andere Branchen wie die Gastronomie oder den stationären Einzelhandel ist aber noch nicht klar, wann es für sie weitergeht. Unter dieser Unsicherheit leiden auch die Auszubildenden. Praktische Erfahrungen kommen derzeit für viele zu kurz, sagt Andrea Bosch von der Industrieund Handelskammer Stuttgart. Verbände und Gewerkschaften machen sich deshalb Sorgen um die Zukunft der Jugendlichen. „Wir müssen eine Generation Corona unter allen Umständen verhindern“, sagt die zweite Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner. Wenn gegen die aktuelle Entwicklung in der Ausbildung nicht weiter konsequent etwas getan werde, habe das massive Folgen.
RAVENSBURG - Alessia Cosentino weiß nicht, was sie mit der ganzen freien Zeit anfangen soll. Die 21-Jährige macht eine Ausbildung zur Verkäuferin in einem kleinen Geschäft auf der Lindauer Insel, das Taschen, Hüte und Schmuck verkauft. Sie ist in ihrem letzten Ausbildungsjahr. Jedoch ist das Geschäft seit Dezember wegen des Lockdowns geschlossen und damit fällt auch die Arbeit für die Auszubildende weg. Natürlich, sie könne das Lager auf- und ausräumen, putzen und sortieren, ihr Chef versuche sie so gut wie möglich zu beschäftigen, sagt sie. Doch die Arbeiten sind irgendwann einfach erledigt.
„Der Kontakt mit den Kunden fehlt mir“, sagt Cosentino. Es habe ihr immer Spaß gemacht, zu beraten und zu verkaufen, die Ware zu präsentieren. Vor Corona wurde der Laden vor allem im Sommer zur Touristensaison stark besucht. „Sogar dieser Saisonstress fehlt mir“, sagt die Auszubildende. Einmal in der Woche nimmt sie jetzt noch digital am Berufsschulunterricht teil, ansonsten ist Stillstand. „Was uns fehlt, ist locker ein halbes Jahr an Praxis, was wir so nicht nachholen können“, sagt die 21-Jährige und spricht damit auch für ihre Mitschüler.
Längst nicht alle, aber viele Auszubildende lernen derzeit im Ausnahmezustand. Betroffen sind vor allem die Azubis, deren Branchen vom Lockdown hart getroffen sind: der Nicht-Lebensmittel-Einzelhandel, Gastronomie, Hotellerie, Veranstaltungsbranche, Floristik, Friseure, Kosmetiker.
Ein angehender Koch oder eine Köchin müsse schließlich lernen, Gerichte für jemanden zuzubereiten, ein Florist oder eine Floristin müsse Gestecke auf Kundenwusch binden, sagt Andrea Bosch, Geschäftsführerin Beruf und Qualifikation bei der Industrieund Handelskammer (IHK) Stuttgart. „Das rein theoretisch abzubilden, ist schwierig“, sagt sie.
Verbände und Gewerkschaften machen sich deshalb Sorgen um die Zukunft der Jugendlichen und auch der Betriebe. „Wir müssen eine Generation Corona unter allen Umständen verhindern“, sagt die zweite Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner. Wenn gegen die aktuelle Entwicklung in der Ausbildung nicht weiter konsequent etwas getan werde, habe das massive Auswirkungen: kurzfristig für die Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz fänden, mittelfristig für die Unternehmen, denen schon bald die Fachkräfte fehlten. Und langfristig auf die Gesellschaft, „die sich vorwerfen muss, einer ganzen Generation eine Zukunftsperspektive versagt zu haben“, sagt Benner. Viele Jugendliche hätten bereits jetzt gut die Hälfte ihrer Ausbildung unter den schwierigen Corona-Bedingungen absolviert, sagt die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Elke Hannack. Dazu gehört auch, dass Berufsschulen zeitweise auf Distanzunterricht umgestellt haben. „Auch hier werden viele Inhalte nicht oder nur unzureichend vermittelt“, sagt Hannack.
So ganz will man das in BadenWürttemberg nicht stehen lassen: „Die Betriebe und Berufsschulen tun gemeinsam alles, um den Jugendlichen die Ausbildungsinhalte bestmöglich zu vermitteln“, sagt Andrea Bosch von der IHK Stuttgart. Die bisherigen Sommer- und Winterprüfungen seien trotz Corona erfolgreich absolviert worden. Auch Alessia Cosentino, die das bayerische Staatliche Berufliche Schulzentrum Lindau (BSZ) besucht, macht sich vorerst keine Sorgen um ihre Abschlussprüfung im Mai. „Auch über den digitalen Weg kann man lernen. Das klappt bei uns so weit gut“, sagt sie.
Der komplette Unterricht sei im Dezember aufs Digitale umgestellt worden, sagt die Schulleiterin des BSZ Lindau, Antje Schubert. Zu Zeiten, in denen die Schüler sonst die Schulglocke hören, müssen sie sich auf einer Chatplattform einloggen, wo der Lehrer auf sie wartet. In der Not ist Kreativität gefragt: Alle theoretischen Inhalte, die den Schülern vermittelt werden könnten, würden die Lehrer jetzt vorziehen. Wenn doch praktische Schritte gezeigt werden müssen, dann geht es auch mal über ein YouTube-Video.
„Auch viele Betriebe sind hier ganz kreativ und überlegen sich viel für ihre Auszubildenden“, sagt Giuseppe Palmieri, Sprecher der Handwerkskammer Ulm. Friseurbetriebe beispielsweise würden weiter mit ihren Azubis unter strenger Einhaltung aller vorgeschriebenen Hygienemaßnahmen üben. „An speziellen Puppenköpfen können Frisuren und Schneidetechniken gelernt werden. Produktschulungen können zum Teil digital durchgeführt werden“, sagt er. Dabei muss der Ausbildungsbetrieb zwingend von allen Möglichkeiten Gebrauch machen, um seine Ausbildungspflicht zu erfüllen. Kurzarbeit kann er für Azubis nicht beantragen.
Der Zentralverband des Deutschen Handwerks und der DGB fordern aber noch zusätzliche Unterstützung für die Auszubildenden. Diese könne von den Kammern, aber auch mithilfe der Gewerkschaften und der Berufsschulen angeboten werden, sagt Hannack. Betriebe sollten etwa
Freistellungen für zusätzliche Lerntage ermöglichen. „Es ist auch im Interesse der Unternehmen, wenn ihre Auszubildenden die Prüfungen gut bestehen“, sagt Hannack.
Ende Januar hatte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) einen neuen Schutzschirm für Auszubildende ins Spiel gebracht. So sollen etwa Ausbildungsprämien Anreize schaffen, einen hohen Ausbildungsstand in Betrieben zu halten – oder auch zusätzliche junge Leute auszubilden. Für DGB-Vize Hannack ist das Modell zu kompliziert gestrickt. „Deshalb kommt das Geld nicht bei allen Ausbildungsbetrieben und den Auszubildenden an“, sagte sie.
Im vergangenen Jahr wurden laut dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) bundesweit 57 600 Ausbildungsverträge weniger abgeschlossen als im Vorjahr. Das entspricht einem Minus von elf Prozent. Die zwölf Industrie-und Handelskammern in Baden-Württemberg melden für 2020 einen Rückgang der Neuverträge um 12,9 Prozent auf 39 309. Auch in Bayern war die Zahl rückläufig.
Dies ist laut Einschätzung von Andrea Bosch allerdings nur teilweise auf die Pandemie zurückzuführen. Denn bereits vor Corona war die Zahl der gemeldeten Ausbildungsstellen und Bewerber rückläufig. Immer weniger Jugendliche entscheiden sich für eine Ausbildung. Durch die Pandemie „ist es nun aber noch schwerer gewesen, an die Bewerber heranzukommen“, sagt Bosch. Vor allem fehlende Berufsorientierung in Form von Praktika, Messen oder persönlichen Beratungsgesprächen habe sich ausgewirkt. „Uns fehlen weniger die Stellen, als vielmehr die Jugendlichen. Trotz vieler digitaler Beratungsangebote und neuer Formate sind viele Jugendliche unschlüssig, was sie tun sollen, und haben deshalb keine Ausbildung begonnen“, sagt Giuseppe Palmieri von der Handwerkskammer. Er betont, die Nachfrage nach kompetenten Mitarbeitern werde in vielen Handwerksberufen auch künftig steigen. „Die Auszubildenden, die jetzt eine Ausbildung im Handwerk absolvieren, werden später als Gesellen gebraucht. Das hat auch Corona nicht verändert.“Auch Andrea Bosch sagt, sie kenne viele Firmen, die noch Auszubildende suchen. Auch wenn durch Corona alles etwas schwieriger sei, Ausbildung habe Zukunft.
Für Alessia Cosentino endet die Lehre im Mai. Was sie im Anschluss macht, weiß sie noch nicht. Sie könne prinzipiell noch ein Jahr Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau dranhängen. Das komme aber nur infrage, wenn die Geschäfte offen sind. „Und das liegt nicht in meinen Händen“, sagt sie.