Gefangen im Netz
Während der Pandemie verbringen Kinder und Jugendliche mehr Zeit am Handy, Tablet oder am PC – Für einige steigt dadurch die Gefahr der Internet- und Computerspielsucht
RAVENSBURG - Jeden Abend um 20 Uhr steckt Martina Koch (Name von der Redaktion geändert) ihren Internetrouter aus, stellt ihn in den Schrank – und schließt diesen ab. Und jeden Abend aufs Neue wird dieses Ritual zum Kampf. Denn für Kochs 14-jährigen Sohn geht ohne den Zugang zum Netz nichts: Den ganzen Tag spielt er am Computer oder auf dem Smartphone. Entsprechend wütend reagiert der Schüler auf den erzwungenen Internetentzug. „Er wird aggressiv und es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen. Das geht mir total an die Substanz“, sagt die Mutter. „An manchen Tagen habe ich das Gefühl, ich schaffe das nicht mehr.“
Die 54-Jährige ist sich sicher, dass ihr Kind ein Suchtproblem hat. „Ohne Handy oder Laptop macht er gar nichts. Er ist online beim Zähneputzen, auf der Toilette, in der Badewanne – einfach immer.“Die meiste Zeit verbringe der 14-Jährige mit dem Computerspiel Minecraft und damit, Videos auf der Plattform YouTube anzuschauen. Vor drei Jahren habe sie angefangen, das exzessive Verhalten ihres Sohns als Problem wahrzunehmen. Eine Odyssee durch verschiedene Praxen von Ärzten und Therapeuten half kaum weiter. Inzwischen besucht Martina Koch regelmäßig die Selbsthilfegruppe des Elternkreises Ulm, wo sie sich mit anderen Müttern und Vätern von suchtkranken Kindern austauscht. „Dort finde ich Verständnis, was sonst bei den meisten Leuten nicht der Fall ist“, sagt sie.
Angefangen habe alles mit einer Spielekonsole, die sich der damals Elfjährige zu Weihnachten wünschte. „Blöderweise habe ich ihm diesen Wunsch erfüllt. Das würde ich heute nie mehr machen“, so die Mutter. Denn das Weihnachtsgeschenk veränderte ihr Kind. Fortan schaltete der Junge jeden Tag nach der Schule die Konsole an und versank in der virtuellen Welt der Videospiele. „Er war dann gar nicht mehr ansprechbar“, erklärt die 54-Jährige.
Als das Verhalten immer maßloser wurde, nahm Martina Koch ihrem Kind die Konsole schließlich weg. Eine Entscheidung mit Folgen: „Er ist durchgedreht. Es sind verschiedene Dinge durch das Zimmer geflogen, er ist auf mich losgegangen und hat auf mich eingeschlagen.“Da die Eskalation kein Ende nahm, wusste sich Martina Koch nicht anders zu helfen – und rief die Polizei.
Seit dem Beginn der CoronaPandemie ist es für die Mutter noch schwieriger, Einfluss auf den Internetkonsum ihres Kindes zu nehmen. Durch den Onlineunterricht habe er „das perfekte Alibi“, um vor dem Rechner zu sitzen. „Ich kann, bevor ich arbeiten gehe, ja nicht den Router abstöpseln, wenn er für die Schule übers Netz erreichbar sein muss“, sagt sie. Deshalb fühle sie sich derzeit noch hilfloser.
Psychologin Isabel Brandhorst über die Computerspielsucht als Krankheit
Nicht nur bei solchen Extremfällen, auch in der Gesamtbevölkerung nimmt die Zeit vor dem Bildschirm während der Pandemie zu. Wird es also nach Corona deutlich mehr Internetsüchtige in der Gesellschaft geben? Darauf könnten jedenfalls die Zahlen der JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest hindeuten. Die Nutzungsdauer von Handy, TV und PC ist demnach im vergangenen Jahr auf 258 Minuten pro Tag gestiegen – 2019 waren es noch 205 Minuten.
Erste Zwischenergebnisse einer Studie der Krankenkasse DAK zur Mediennutzung während der Pandemie sind noch alarmierender: Demnach ist bei fast 700 000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland das Computerspielen riskant oder pathologisch. Im Vergleich zum Herbst 2019 nehmen die Spielzeiten im Corona-Lockdown werktags um bis zu 75 Prozent zu.
Ähnlich sieht es bei Social-Media-Aktivitäten aus. Eine problematische Nutzung wird bei rund 170 000 Jungen und Mädchen (3,2 Prozent) festgestellt. Während der CoronaKrise steigen die Social-MediaZeiten werktags um 66 Prozent an – von 116 auf 193 Minuten pro Tag.
Lara Wolfers sind die derzeitigen Zahlen zu unkonkret, die These, dass die Pandemie die Jugendlichen zu Bildschirm-Zombies macht „übertriebener Alarmismus“. Wolfers ist Doktorandin am LeibnizInstitut in Tübingen und forscht zu den Auswirkungen von Medien auf Jugendliche und ihre Familien. „In der Öffentlichkeit wird die Mediennutzung häufig verdammt“, sagt Wolfers. „Nur weil junge Menschen stundenlang Computerspiele spielen, heißt es mittlerweile häufig, dass sie krank seien – das ist aber falsch.“
Wolfers geht einen Schritt weiter: Dass die Internet- und Computerspielsucht seit Kurzem eine anerkannte Erkrankung ist, hält sie für mindestens fragwürdig. Tatsächlich ist sich die Wissenschaft in dieser Frage uneinig. Wolfers und andere glauben, problematische Mediennutzung sei eher ein Symptom als die Erkrankung selbst.
Viel Zeit vor dem Bildschirm hat erst einmal keine negativen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, da sind sich viele Wissenschaftler einig. Andere Faktoren beeinflussen Heranwachsende stärker. Wolfers zeigt in einer ihrer Forschungen beispielsweise, dass eine schlechte Eltern-Kind-Beziehung immer noch deutlich gravierendere Auswirkungen auf das Kind hat als die Zeit vor Smartphone, TV und PC. Für Wolfers bedeutet das: Erst gibt es Familienprobleme, Depressionen, das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ADHS oder ein geringes Selbstwertgefühl – und daraufhin entsteht bedenkliches Mediennutzungsverhalten oder sogar Sucht.
„Viele unserer Patienten haben gleichzeitig andere Störungen“, sagt auch Isabel Brandhorst, „es gibt aber auch andere, die haben ansonsten gar keine Probleme und geraten trotzdem in die Spielsucht.“Brandhorst ist Psychologin und Leiterin der Forschungsgruppe „Internetbezogene Störungen und Computerspielsucht“an der Uniklinik in Tübingen.
Für sie ist es wichtig, dass die Computerspielsucht als eigenn Krankheit diagnostiziert werden kann. Dadurch habe die Uniklinik die Möglichkeit, gezielte Therapien zu entwickeln – für die dank der Anerkennung als Erkrankung die Krankenkassen zahlen. „Wir haben Kinder, die in Flaschen pinkeln, nicht duschen, nicht zur Schule gehen – dann zu sagen, die haben keine Erkrankung, das ist ein Skandal.“
Dieser Meinung ist auch Martina Koch. Die Einstufung der Mediensucht als Krankheitsbild helfe, als Betroffene Unterstützung zu bekommen, denn: „Ein Großteil der Ärzte hat bisher gar keine Erfahrung mit dem Thema. Das hat es schwer gemacht, Hilfe zu finden.“Sie kann aber ebenfalls bestätigen, dass die Sucht oft noch mit anderen Störungen einhergeht. So beobachtet sie bei ihrem Sohn depressive Züge.
Allerdings sei es enorm schwierig, für einen 14-Jährigen psychotherapeutische Hilfe zu finden, wenn dieser es selbst nicht möchte. „Auch wenn er mein Kind ist: Ich kann ihn nicht zwingen. Zwar gäbe es die Möglichkeit, ihn über einen Antrag bei Gericht zwangsweise in eine Klinik einweisen zu lassen, aber dann wäre unsere Beziehung komplett im Eimer“, sagt sie. Die Mutter erzählt, dass sie in den vergangenen drei Jahren schon an vielen Stellen nach Unterstützung gesucht hat. Aber immer, wenn sie ihren Sohn doch überreden konnte, einen Arzt zu sehen, hat er sich dort bestens präsentiert. Die Folge: Keiner der Experten sah eine Behandlung als nötig an.
Verena Bader (Name von der Redaktion geändert) kennt dieses Problem nur zu gut. Wie Martina Koch besucht auch sie den Elternkreis Ulm, um sich mit anderen über die Suchtprobleme ihrer Kinder auszutauschen. Denn die Mutter aus einer Gemeinde im AlbDonau-Kreis hat ebenfalls einen Sohn, der süchtig nach Computerspielen ist. Besonders dem Onlinespiel World of Warcraft ist er verfallen. Auch ihr Sohn habe es verstanden, bei Arztbesuchen seine Sucht optimal zu verstecken: „Er ist ein guter Schauspieler. Er kann die pure Lebensfreude zeigen – und die Ärzte glaubten ihm das“, erzählt die 60-Jährige.
In der Realität litt aber auch ihr Kind neben der Onlinesucht unter Depressionen – konnte oder wollte sich das aber nicht eingestehen. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn nahm dadurch über die Jahre enormen Schaden. „Das ist wie, wenn du jemanden ertrinken siehst, aber nicht weißt, wie du ihm helfen kannst“, sagt Bader. Mittlerweile ist ihr Sohn erwachsen und hat nur noch sporadisch Kontakt zu seiner Mutter. Es gehe ihm derzeit gut, er sei in einer betreuten Wohngruppe untergekommen und plane, eine Psychotherapie anzufangen. „Als Mutter hat man ja eine Vorstellung davon, was aus dem eigenen Kind werden soll. Dass es einen Job findet, den es gern macht, und sein Leben gut bestreitet“, sagt sie. Inzwischen hoffe sie aber einfach nur, dass er es schafft, glücklich zu werden.
Schicksale wie diese kennt Psychologin Isabel Brandhorst. Sie betreut auch die Eltern von suchtkranken Kindern und Jugendlichen. Viele Mütter und Väter hadern mit sich und bereuen, das Surfen und Spielen nicht schon früher verboten zu haben, sagt sie. Restriktionen und Verteuflung des Internetangebots seien jedoch der falsche Weg, erklärt Brandhorst. Regeln stießen bei den Kindern und Jugendlichen häufig auf Trotz – die Gefahr, dass die Mediennutzung erst dadurch ungesund werde, sei groß. Um das zu umgehen, sollten Eltern von vorneherein eine offene Atmosphäre bieten, eine Atmosphäre, in der reflektiert über die Mediennutzung gesprochen werde.
Während einige Eltern zu streng vorgehen, öffnen andere ihren Kindern direkt alle Formen und Zugänge zum Internet. Das ist laut
Brandhorst genauso problematisch. Durch diesen lässigen Umgang würden Kinder mit der emotionalen Reizüberflutung des Internets alleingelassen, sagt sie. Eltern bereiteten ihre Kinder darauf vor, nicht zu Fremden ins Auto zu steigen. In welche Internetplattformen sie besser nicht einsteigen sollten – darüber würde in Familien viel zu selten gesprochen. „Eltern beschäftigen sich zu wenig mit den Onlinethemen und schieben die Verantwortung gern auf die Kinder, aber auch auf Schule und Staat ab“, fasst Brandhorst zusammen.
Doch wie gravierend sind die Auswirkungen der Pandemie und die gesteigerte Bildschirmzeit? Für Brandhorst ist es zu früh für Horrorszenarien: „Wenn zum Sommer hin die Türen aufgehen und Kinder und Jugendliche nicht rausgehen, dann können wir uns Sorgen machen.“Laut Brandhorst steigert die Pandemie die Suchtgefahr nur bei einer kleinen Risikogruppe. Rund 94 Prozent der Kinder und Jugendlichen hätten auch während Corona eine unproblematische Mediennutzung.
Menschen, die tatsächlich mit einer Sucht kämpfen, müssen zu einer solchen Nutzung aber erst einmal zurückfinden. Martina Koch ist fest überzeugt, dass dieser Wille zur Veränderung von ihrem Sohn ausgehen muss: „Ich kann ihm noch so viele Alternativangebote machen. Wenn er nicht selbst zur Erkenntnis kommt, dass er etwas verändern muss, ist es zum Scheitern verurteilt.“
Den Glauben daran, dass ihrem Kind das eines Tages gelingen wird, will die 54-Jährige nicht aufgeben. „Ich wünsche mir, dass er seinen Abschluss schafft und etwas findet, was ihm in der Realität ein genauso gutes Gefühl gibt wie die Zockerei.“Bis dahin wird sie weiter versuchen, ihren Sohn beim Weg aus der Sucht zu unterstützen – mit Gesprächen, Hilfsangeboten, aber auch gezielten Einschränkungen. Und so wandert der WLAN-Router weiterhin abends in den abgeschlossenen Schrank. Auch wenn sich die Mutter bewusst ist, dass dies nur eine begrenzte Wirkung haben kann: „Wenn das Internet aus ist, zockt er halt offline weiter.“
„Wir haben Kinder, die in Flaschen pinkeln, nicht duschen, nicht zur Schule gehen.“